Die Normalität der Krise
Wir sind umgeben von Krisen, die uns ratlos machen. Doch sind die Zäsuren wirklich ein Ausnahmezustand oder nur die Rückkehr zu einer vergessenen Normalität?
Wir leben in einem Zeitalter der multiplen Krisen: Pandemie, Krieg, Inflation, Korruption, Klimawandel, Populismus, Migration, Kapitalismus, künstliche Intelligenz – damit sind nur die großen Krisenherde benannt, die uns seit einigen Jahren beschäftigen. Kleinere Krisen wie der Verfall des österreichischen Gesundheitswesens, die Rechenkünste der Sozialdemokratie oder die Aufregungen über unbotmäßige Koalitionen auf Landesebene zählen wir dabei gar nicht mit. Und bei all dem war noch nicht von den vielen persönlichen Krisen die Rede, die einerseits als Folge der großen Krisen den Einzelnen treffen können, andererseits diesen auch nicht verschonten, wäre die Welt in Ordnung.
- Alex Gloy über die Krise des Finanzsystems
- Martin Halla über Österreichs fatale Corona-Bilanz
- Justus Enninga über Schwarzmaler
Die Omnipräsenz der Krise, die zu einem Merkmal unseres Lebens geworden ist, stellt uns jedoch vor ein großes Problem: Die Krise ist die Unterbrechung des Alltags, nicht dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln. Die Krise ist kein Dauerzustand. Wer das Gefühl hat, ständig mit und in Krisen zu leben, hat im strengen Sinn keine Krise. Es lohnt sich also, etwas schärfer über den Begriff der Krise nachzudenken. Eine Krise ist eine plötzliche Veränderung, ein dramatischer Einschnitt, das Ende einer gewohnten Lebensform, ohne dass klar würde, was nun kommen wird. Die Krise ist ein Wendepunkt in einem Prozess, eine Phase, in der sich die Dinge scheiden.
Das Wort „Krise“ leitet sich vom griechischen krínein ab, das so viel wie trennen oder unterscheiden bedeutet. Das Wort „Kritik“ geht übrigens auf dieselbe Wurzel zurück. Nur während wir in der Kritik selbst Unterscheidungen vornehmen – etwa zwischen gelungen oder weniger gelungen, gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen –, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und es steht zu erwarten, dass nachher nichts mehr so sein wird wie vorher.
Zäsur zwischen einem Davor und Danach
Die Krise setzt selbst eine dramatische Zäsur zwischen einem Davor und Danach. In der Medizin bezeichnet die Krise eine kurze Phase im Krankheitsverlauf, jene von Hippokrates so genannten „entscheidenden Tage“, in denen sich herausstellt, ob zum Beispiel eine Infektion überwunden werden kann oder nicht. Eine Krise kann zum Untergang führen, man kann sie aber auch überstehen.
Im ökonomischen, politischen und sozialen Bereich stellen Krisen die kurzfristige Störung oder den Zusammenbruch bislang funktionierender Ordnungen dar, aus denen nach einer mitunter chaotischen Phase im Idealfall eine neue, stabilere Ordnung entsteht. Allerdings kann dies auch misslingen, und wir taumeln dann von einer Krise in die nächste.
Wann aber ist die Differenz zwischen einem Davor und Danach so signifikant, dass man tatsächlich von einer Krise sprechen kann? Denn Leben ist in all seinen individuellen und kollektiven Formen stets von Veränderungen gekennzeichnet. Nicht jede dieser Transformationen, die wir etwa im normalen Prozess des Älterwerdens und Alterns, in einer Karriere, im Laufe einer Beziehung erleben, verstehen wir als Krise.
Wenn Unternehmen wachsen oder Institutionen sich reformieren, muss dies kein Krisensymptom sein. Und wenn Veränderungen unerwartet auftreten, muss das nicht mit einem Krisenbewusstsein verbunden sein. Werden solche Disruptionen positiv konnotiert – man denke an einen glücklichen Zufall, eine unerwartete aufregende Begegnung mit einem Menschen oder eine überraschende Innovation –, erleben wir diese eher als Stimulus, als Bereicherung, als neue Option und weniger als Krise. Zur Krise gehört die Erfahrung der Negativität. Es bricht etwas zusammen, von dem man nicht wollte, dass es zusammenbricht. Wir erleben Krisen in erster Linie als Ausbruch von Dysfunktionalitäten. Dinge, deren Ablauf geregelt schien, geraten außer Tritt: Der Körper funktioniert nicht mehr, das Bildungssystem funktioniert nicht mehr, die Wirtschaft funktioniert nicht mehr, der Staat funktioniert nicht mehr.
Wer sich wegen einer Erkrankung vor Schmerzen krümmt, nach einer Trennung dem Alkohol verfällt, als Lehrperson angesichts untragbarer Zustände nicht mehr unterrichten will, wer sich nur noch mittels Korruption bei Behörden Gehör verschaffen kann und zusehen muss, wie die Inflation seine Ersparnisse auffrisst, erlebt sich zunehmend in einem Krisenmodus. Die Krise ist unerwünscht, sie schmerzt und erzeugt das Gefühl der Ohnmacht.
Wenn Lösungen versagen
Zu einer spürbaren Krisenerfahrung gehört deshalb eine momentane Rat- und Orientierungslosigkeit. Die fundamentale Frage, die sich in jeder Krise stellt, lautet schlicht und einfach: Was nun? Wer sich ohne Navigationsgerät in einer fremden Stadt verfahren oder verlaufen hat, wird sich diese Frage ebenso stellen wie der Politiker, der keine Ahnung hat, wie man explodierende Energiepreise in den Griff bekommt.
Keine Angst vor der Polykrise
Menschen, die angesichts unvorhergesehener Ereignisse suggerieren, sie wüssten immer sofort, was zu tun ist, leben nicht im Krisenmodus. Dieser tritt erst ein, wenn versprochene Lösungen versagen. Eine Krise erfordert ein Handeln, einen Eingriff, einen Versuch, ihrer Herr zu werden. Diese Interventionen können nach einer turbulenten Phase ein System wieder stabilisieren, vielleicht verbessern, auf neue Grundlagen stellen, durch etwas anderes ablösen, oder sie können scheitern und sowohl für Individuen als auch für soziale Systeme ein Ende bedeuten.
Ob eine krisengeschüttelte Partei zu neuen Ufern aufbrechen kann oder sich auflöst, wird sich weisen – beides ist auf dem Höhepunkt der Krise noch denkbar. Sich passiv in das Unvermeidliche zu fügen und einfach zu warten war und ist natürlich auch eine Möglichkeit, auf Krisenerfahrungen zu reagieren. Mitunter ist das „Aussitzen“ einer Krise keine schlechtere Handlungsoption als hektischer Aktivismus.
Jede Krise hat ein Ende
Zu einer Krise gehört ihr Ende. Zu einer Krise gehört das Wissen, dass etwas überstanden wurde, dass man, wie man es etwa von krisenhaften Krankheitsverläufen kennt, über den Berg ist. Dass man eine Krise durchgemacht hat, zeigt sich an der bewusst erlebten, neuartigen Form eines Danach. Manche Krisen – denken wir an die Pandemie – müssen geradezu politisch beendet werden, um allen klar zu machen, dass wir nun in einem Danach leben. Ob dieses in unserem konkreten Fall nichts anderes ist als das alte Davor oder ob aus einer Krise doch Lehren für die Zukunft gezogen werden können, ist in dem genannten Fall noch immer ein Streitpunkt.
Die fundamentale Frage, die sich in jeder Krise stellt, lautet: Was nun?
Krisen zeitigen jedenfalls auch ein regressives Moment: Wir möchten nur allzu oft zu dem Zustand zurückkehren, aus dem uns die Krise schmerzhaft gerissen hat. Krisenbewältigungsrhetorik ist deshalb fast notwendigerweise mit nostalgischen Rückblicken verbunden, mit der Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war.
Man achte einmal darauf, mit welch einer verklärenden Inbrunst Klimaaktivisten die Formulierung „vorindustrielles Zeitalter“ verwenden: Der Spätfeudalismus, in dem 90 Prozent der Menschen mühselig von einer kargen Landwirtschaft lebten und in eiskalten Wintern vom Erfrierungstod bedroht waren, wird zu einem Idealzustand erklärt, in dem das Allerwichtigste gestimmt hat: Der CO² -Gehalt war niedrig, und die Temperaturen lagen deutlich unter den heutigen Werten.
Normalität oder Katastrophe?
Werfen wir einen Blick auf die Wirtschaft: Was muss sich in dieser so verändern, dass wir von einer Krise sprechen können? Konjunkturzyklen und damit verbundene steigende oder sinkende Zahlen von Arbeitslosen, platzende Spekulationsblasen, das Auf und Ab an den Börsen, Insolvenzen und Neugründungen von Unternehmen, stagnierende oder sinkende Wachstumsraten: All das gehört eigentlich zum Alltag des Kapitalismus.
Früher sagte man gerne, dass der Kapitalismus prinzipiell krisenanfällig ist, ja geradezu von diesen Zyklen, von einem Wechsel von Konjunkturen und Depressionen lebt – von der Tulpenmanie der 1630er-Jahre bis zur Finanzkrise des Jahres 2008. So gesehen wäre die Krise des Kapitalismus keine Krise, sondern seine Normalität.
In den letzten Jahren haben wir uns gerne einreden lassen, dass es gelungen sei, diese Krisenanfälligkeit zu neutralisieren, sodass die Normalität des Kapitalismus nun ein ständiges und stetes Wachstum sei, von dem alle, die einen mehr und schneller, die anderen langsamer und weniger, profitieren. Kaum einer der renommierten Wirtschafts-, Trend- und Zukunftsforscher hatte deshalb die aktuellen Krisen kommen sehen, sie gehörten nicht mehr zum Bild unserer Welt.
Man könnte auch sagen: Was uns jetzt im Bereich der Ökonomie so beunruhigt, ist die Rückkehr zu einer vergessenen Normalität, die von großen sozialen, wirtschaftlichen und energietechnischen Unsicherheiten geprägt war. Und diese Wiederkehr erleben wir nun als Krise.
Krieg gehörte in Europa bis 1945 zum Alltag
Diese paradoxe Rückkehr zur „Normalität“ zeigt sich in vielen Bereichen der Gesellschaft. Es gibt nicht wenige Beobachter, die den Ausbruch der Pandemie und den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht als den großen Zusammenbruch funktionierender Ordnungen, als schrecklichen Ausnahmezustand diagnostizieren, sondern als Reetablierung einer Verfasstheit, die wir in einer verwöhnten Epoche vergessen hatten: Krieg gehörte in Europa bis 1945 zum Alltag, und Pandemien waren seit der Antike periodisch auftretende Begleiterscheinungen des Lebens.
Der Dritte als Krisenfaktor
Systeme gelangen nicht nur aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit in eine Krise, wie es die klassische Kapitalismustheorie marxistischer Provenienz vermeinte, sondern auch durch das Auftauchen neuer, bislang unbekannter oder vernachlässigter Faktoren.
Private Systeme wie eine Paarbeziehung können durch das Erscheinen eines Dritten in eine Krise geraten, die keinen Beteiligten verschont. J. W. Goethes Die Leiden des jungen Werthers hat dies paradigmatisch vorgeführt. Der Dritte als entscheidender Krisenfaktor wurde bislang vielleicht unterschätzt. Die Balance in einem System, das einer binären Logik gehorcht, wird durch den Einbruch eines Dritten empfindlich gestört.
Die psychologische These, dass dies nur geschehen würde, wenn eine Beziehung ohnehin schon bröckelt, greift zu kurz. Der Dritte symbolisiert schlechthin das Neue, Unerwartete, Fremde, das vieles aus dem Gleichgewicht bringen kann.
Das gilt auch für soziale Systeme. Das Coronavirus etwa führte die schwierige Balance zwischen den Bedürfnissen von Patienten und den Möglichkeiten des Gesundheitssystems an den Rand des Zusammenbruchs und provozierte ein Krisenbewusstsein, das die Gesellschaft insgesamt erfasste.
Neben dem Einbruch eines Unbekannten können sprunghafte Entwicklungen oder technische Innovationen ebenfalls als Krisenmotor fungieren. Das jüngste Beispiel wäre der Siegeszug der künstlichen Intelligenz, der an mehreren Stellen gesellschaftliche Funktionsweisen in Frage stellt.
Stillstand statt Wirtschaftswunder
Im Bildungsbereich zum Beispiel wird das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler dadurch nachhaltig gestört, denn nun geht es nicht mehr um Plagiate, Schwindel oder Betrug als unzulässige und sanktionierbare Manöver bei Abschlussarbeiten oder Prüfungen, sondern um die technisch induzierte, systematische Substitution einer individuellen Leistung durch eine billige und einfache maschinelle Alternative. Die Formen schulischer Leistungsanforderungen, die in den letzten Jahrzehnten propagiert worden sind, werden mit einem Schlag obsolet.
Die Krise als Chance?
Man kann sein Heil nun in der Anpassung an diese Innovation suchen und den adäquaten Umgang mit ChatGPT als neuen Leistungsparameter definieren oder zu längst überwunden geglaubten Formen der pädagogischen Interaktion – etwa der mündlichen Prüfung oder handschriftlichen Arbeiten – zurückkehren. Das bislang gültige System jedoch ist unhaltbar geworden.
Was nun? Das ist die Frage, die sich viele angesichts der Erfolgsmeldungen der KI stellen. Ein Moratorium fordern die einen, strenge Regeln die anderen, stürmischen, uneingeschränkten Fortschritt die Dritten.
Und wie bei jeder Krise stehen dystopische Ängste in Konkurrenz zu den Hoffnungen derjenigen, die auch in dieser Krise ihre Chance auf neue Märkte und einen Wettbewerbsvorteil wittern. Und darin zeigt sich noch eine Eigentümlichkeit der Krise. Der Satz, dass in jeder Krise eine Chance liege, stimmt zwar, er ist aber unpräzise formuliert. Richtig müsste es heißen: Die Krise der einen ist die Chance der anderen.
Das 26. Philosophicum Lech, dessen wissenschaftlicher Leiter Konrad Paul Liessmann ist, findet heuer von 19. bis 24. September statt.
Thema: „Alles wird gut. Zur Dialektik der Hoffnung“
Weitere Informationen unter philosophicum.com.