Stillstand statt Wirtschaftswunder
Das Wirtschaftswunder ist lange vorbei. Seit gut zehn Jahren taumeln die Industriestaaten von einer Krise zur nächsten. Es fehlt an neuen Ideen, und die Produktivität macht kaum noch Fortschritte. Wie kommen wir aus dem Dauertief heraus?
Auf den Punkt gebracht
- Stillstand. Seit über einem Jahrzehnt stockt das Wirtschaftswachstum im Westen, weil die Steigerung der Produktivität nachließ.
- Alterung. Dank Babyboom und Globalisierung wuchs die Zahl der Arbeitskräfte massiv – der Trend kehrt sich nun um.
- Sand im Getriebe. Der wachsende bürokratische Dschungel nutzt großen Konzernen und hemmt innovative Jungunternehmer.
- Innovationsgeist verloren. Seit einem halben Jahrhundert ist die Zahl bahnbrechender Erfindungen rückläufig.
Würde man eine europäische Bäuerin aus dem Jahr 1000 mit einer Zeitmaschine ein halbes Jahrtausend weiter ins Jahr 1500 transportieren, käme ihr das Leben ziemlich bekannt vor. Noch ein derartiger Zeitsprung ins Jahr 2000, und die Arme hätte wohl einen Herzinfarkt. Der sagenhafte Wohlstand, den die Menschheit seit der industriellen Revolution um 1800 herum geschaffen hat, wäre nicht möglich gewesen ohne große Erfindungen, von der Dampfmaschine bis zum Computer. Diese Innovationen machten es möglich, dass pro Arbeitsstunde immer mehr Wert entsteht. Ebenso wichtig waren gesellschaftliche Reformen: stabile Eigentumsrechte oder Gewaltenteilung etwa.
- Alex Gloy über die aktuelle Krise: Auf Crash-Kurs
- Jan Kluge im Videointerview: Sinkt die Inflation schon wieder?
- Markus Hengstschläger: Biohacking: Stark, schön, unsterblich?
- Justus Enninga über Schwarzmaler: Wieder geht die Welt nicht unter
Die Geschichte zeigt, dass kleine Unterschiede in den Wachstumsraten immense Auswirkungen haben. Dabei ist das Wachstum unserer Produktivität der wichtigste Faktor. Denn es gab immer schon technische Innovation und institutionelle Veränderung. Doch wie es der Wirtschaftshistoriker Gregory Clark einmal beschrieb, hat die Menschheit frühere Verbesserungen genutzt, um sich zu vermehren. Der allgemeine Wohlstand erhöhte sich dadurch nicht. Das gelang erst, als die Produktivität so schnell stieg, dass wir mit dem Kinderkriegen nicht mehr nachkamen.
Doch mit dieser Dynamik scheint es erst einmal vorbei zu sein. Seit über einem Jahrzehnt stockt das Wirtschaftswachstum im Westen – und zwar vor allem, weil die Steigerung der Produktivität nicht an frühere Werte heranreicht. Trotz Digitalisierung und hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung scheint es schwieriger denn je, signifikante Fortschritte zu erzielen.
Den historischen Bruch markierte die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008. Das jährliche Produktivitätswachstum in der EU lag seither bei 0,9 Prozent. In den Jahren 1995 bis 2007 war die Produktivität noch fast doppelt so schnell gewachsen, nämlich um 1,6 Prozent pro Jahr. Auch in den Vereinigten Staaten halbierte sich der Wert im Vergleich der zwei Perioden von 2,1 auf 1,1 Prozent.
Zahlen & Fakten
Hohe Kosten
Es steht viel auf dem Spiel, wenn es Europa und den Vereinigten Staaten nicht gelingt, das Ruder herumzureißen. Laut einer Schätzung des Unternehmensberaters McKinsey könnte allein die Wirtschaftsleistung in den USA bis zum Jahr 2030 um zehn Billionen Dollar höher ausfallen, wenn es heute gelänge, zum historischen Trend bei den Produktivitätsgewinnen zurückzukehren. Das entspricht mit rund 15.000 Dollar pro Haushalt fast dem Wert eines Kleinwagens für jede Familie.
Was steckt hinter der großen Flaute? Und wie kommen wir wieder auf Kurs? Experten aus Wissenschaft und Praxis geben im Pragmaticus Antworten. Eines haben ihre Analysen gemein: Um aktuelle Entwicklungen zu verstehen, muss man sie im Zusammenhang der großen historischen Trends betrachten. Die Phase stockender Produktivität und geringen Wirtschaftswachstums seit der Finanzkrise war auch eine historisch niedriger Zinsen und geringer Inflationsraten.
Erst seit einem Jahr erleben wir scheinbar aus heiterem Himmel die höchsten Preissteigerungen seit einem halben Jahrhundert. Damit geht ein drastischer Kurswechsel der großen Notenbanken einher, die seit gut einem Jahr die Zinsen ordentlich erhöhen.
Zahlen & Fakten
Keiner konnte ahnen, dass die Welt von einer Pandemie heimgesucht werden und Russland die Ukraine überfallen würde, lautet das Argument der Währungshüter. Wenn diese Schocks verdaut sind, werde alles so weitergehen wie davor: Schon im nächsten Jahr soll die Inflation auf drei Prozent fallen und sich ab 2025 bei rund zwei Prozent einpendeln. Das besagt zumindest die Prognose der Europäischen Zentralbank für den Euroraum.
Die wahren Gründe der Inflation
Zwei prominente Stimmen haben dieser optimistischen Sichtweise bereits zu Beginn der Pandemie widersprochen. Lange bevor die Teuerung zuschlug, hatten Charles Goodhart, emeritierter Professor an der London School of Economics und langjähriger Chefberater der Bank of England, und sein Co-Autor Gründer des Unternehmensberaters Talking Heads Macro, die kommende Inflation vorausgesagt.
Viel weniger Arbeitskräfte
Teil ihrer Prognose war schon damals, dass die Notenbanken die wahre Ursache der Teuerung nicht gebührend berücksichtigen würden. Die beiden Ökonomen vertraten in einem viel diskutierten Buch die These, dass die Welt am Beginn eines großen wirtschaftlichen Umbruchs stehe, den die Krisen nicht verursacht, sondern nur zum Vorschein gebracht hätten.
Für den Pragmaticus haben beide Experten ihre Analyse im Lichte der jüngsten Ereignisse evaluiert und fühlen sich bestätigt: „Die Geschichte lehrt, dass sich alle Dinge ändern, trotzdem erkennen wir oft nicht, dass uns unmittelbar Umbrüche bevorstehen“, betonen die Ökonomen. „Die wichtigste Ursache für die niedrige Inflation waren demografische Kräfte, gepaart mit Chinas und Osteuropas Eintritt in das Welthandelssystem.“ Kurz gesagt: Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Bevölkerung, die „Babyboomer“ fluteten ab den 1960er-Jahren den Arbeitsmarkt.
Noch nie in der Geschichte gab es einen derartigen Sprung beim Arbeitskräftenagebot.
Zusätzlich ermöglichte die Verbreitung von Waschmaschinen und anderen Hilfsmitteln vielen Frauen, arbeiten zu gehen. Nicht zuletzt erhöhte sich die globale Menge an Arbeitskräften auch dadurch enorm, dass China und die ehemaligen Sowjetstaaten in das Welthandelssystem eintraten.
„Noch nie in der Geschichte gab es einen derartigen Sprung. Insgesamt handelte es sich um einen positiven Angebotsschock auf dem Arbeitsmarkt, der zu einem schnelleren Wachstum der Produktion und einem viel langsameren Preisanstieg führte, als unter anderen Umständen zu erwarten gewesen wäre“, erklären Goodhart und Pradhan. Nun aber sinkt die Zahl der Erwerbstätigen in den meisten entwickelten Volkswirtschaften. Auch China ist davon betroffen.
Krisen als Beschleuniger
Corona und der Krieg treiben die Entwicklung voran, wie Goodhart und Pradhan erklären: Nach dem Ende der Pandemie verlief die Rückkehr der Arbeitnehmer in den Job aus mehreren Gründen schleppend. Viele der älteren Menschen, die gerne von zu Hause aus gearbeitet hatten, gingen angesichts ihrer vollen Bankkonten vorzeitig in den Ruhestand statt zurück ins Büro.
Vor allem aber hatte die Abschottung während der Pandemie die üblichen Einwanderungsströme verringert. Der daraus resultierende Mangel auf dem Arbeitsmarkt trieb Löhne und Preise viel stärker an, als die Notenbanken erwartet hatten. Eine entsprechende Zinswende war nicht eingeleitet worden. Und dann brach der Krieg aus.
Die größte Lücke auf dem Arbeitsmarkt besteht nach wie vor bei Menschen, die relativ ungelernte Dienstleistungsberufe ausüben
Russlands Angriff auf sein Nachbarland hat die Inflation zwar befeuert, aber nicht ausgelöst. „Dennoch besteht für die Zentralbanken ein klarer Anreiz, die Auswirkungen des Konflikts auf die Inflation aufzubauschen, da dieser Krieg ganz eindeutig nicht ihre Schuld ist und sie nichts dagegen tun können“, sagen die Experten. Tatsächlich seien andere Einflüsse wichtiger. Auf die historisch einzigartige Flut an Arbeitskräften folgt nun der große Mitarbeiterschwund. Denn die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Pension.
Zahlen & Fakten
Das treibt den Mangel gleich doppelt an. Einerseits steigt die Altersabhängigkeitsquote. Diese beschreibt das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den über 64-Jährigen und den Menschen im erwerbsfähigen Alter (15–64 Jahre). Zwischen 1995 und 2007 kamen in der EU auf 100 Erwerbsfähige 25 Ältere. Im Jahrzehnt nach der Finanzkrise waren es 30 Senioren auf 100 Junge. In dieser Tonart wird es weitergehen. Andererseits erhöht die wachsende Zahl der Rentner die Nachfrage nach Arbeitskräften.
Stagflation 2.0
Goodhart und Pradhan meinen: „Die größte Lücke auf dem Arbeitsmarkt besteht nach wie vor bei Menschen, die relativ ungelernte Dienstleistungsberufe ausüben und mit anderen Menschen zu tun haben. Um ein prominentes Beispiel aus dem Vereinigten Königreich zu nennen: Das Gesundheitswesen sieht sich mit langen Wartelisten, etwa für Hüftoperationen, konfrontiert, weil nicht genügend Betten zur Verfügung stehen. Es stehen nicht genügend Betten zur Verfügung, weil sie mit invaliden alten Menschen belegt sind, die nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden können, weil es nicht genügend Plätze in Pflegeheimen für sie gibt. Es gibt nicht genügend Plätze in Pflegeheimen, weil es dort nicht genügend Pflegepersonal gibt.“
Was bedeutet dieser große Umbruch für die Gesamtwirtschaft? Die beiden Autoren liefern keinen rosigen Ausblick: „Wir gehen davon aus, dass die Inflation in den nächsten Jahren nicht oder nur sehr kurz unter drei oder vier Prozent fallen wird. Das wird mit Zinssätzen zwischen drei und vier Prozent, einem sehr schwachen Wachstum und einer Arbeitslosigkeit, die mindestens ein oder zwei Prozentpunkte über dem derzeitigen Niveau liegt, einhergehen.
Dies ähnelt der Situation in den 1970er-Jahren. Mit anderen Worten: Willkommen in der Stagflation 2.0.“ Es gibt allerdings einen Lichtblick. Die Experten erwarten einen Anstieg der Produktivität, denn höhere Löhne schaffen auch Anreize, Mitarbeiter so effizient wie möglich einzusetzen. Doch um produktiver zu werden, müssen einige Hürden überwunden werden.
Vorschriften lockern
Für die Politanalystin Diane Katz gilt die schleichend, aber stetig gewachsene Regulierung als Haupthindernis für die Produktivität. Die Expertin an der amerikanischen Heritage Foundation befasste sich intensiv mit den Folgen von Gesetzen und Vorschriften auf das Unternehmertum der vergangenen Jahrzehnte. Ihr Fazit: „Die Kosten der Regulierung wirken sich auf die gesamte Wirtschaft aus, verzerren die Investitionen und behindern Innovationen – alles wichtige Komponenten der unternehmerischen Tätigkeit und des Produktivitätswachstums.
Ein Hoch auf die Globalisierung
Diese Last trifft junge Unternehmen besonders stark, weil sie nur über begrenztes Kapital verfügen, um ihren Betrieb und Arbeitsprozesse zu ändern. Außerdem fehlt es ihnen oft an Fachwissen, um sich in den komplexen Vorschriften zurechtzufinden.“ Die Entwicklung in den USA ist ein gutes Beispiel: Der U.S. Code of Federal Regulation umfasst sämtliche Bundesverordnungen. Seit 1990 hat sich sein Umfang auf 185.984 Seiten fast verdoppelt.
Dabei ist es gar nicht so leicht zu beziffern, wie viele Vorschriften ein bestimmter Betrieb zu erfüllen hat. Die „New York Times“ hat einmal in mühseliger Recherche 17 Regularien mit 5.000 Vorschriften identifiziert, die eine kleine Apfelplantage betreffen. Unter anderem berichteten die Betreiber konsterniert über die vielen Vorgaben für den richtigen Einsatz von Leitern.
Lobby statt Markt
Die bürokratische Belastung des Privatsektors in den USA entspricht einem Aufwand von 10,6 Milliarden Stunden und kostet über 160 Milliarden Dollar im Jahr, rechnet Katz vor. Zudem steigt diese Last: Präsident Joe Biden hat für das Geschäftsjahr 2021 rund 80 Milliarden Dollar für die Regulierungsbehörden veranschlagt, was einem Anstieg von 220 Prozent gegenüber dem Geschäftsjahr 2000 entspricht (zum heutigen Dollarkurs berechnet).
Kleine Unternehmen produzieren 16-mal mehr Patente pro Mitarbeiter als größere Firmen.
Doch die Kosten der Verwaltung sind nur ein Teil des Problems. Die Produktivität werde auch dadurch gehemmt, dass sich Unternehmen im Wettbewerb nicht mit besseren Ideen durchsetzen, sondern indem sie die Vorschriften nutzen oder sogar beeinflussen, um sich gegen Marktkräfte durchzusetzen, argumentiert Diane Katz. Das mag sich für einzelne Konzerne und Gruppen auszahlen, schadet aber der Gesamtwirtschaft.
Die US-Forscherin meint: „Unternehmertum ist ein zentraler Wert des amerikanischen Ethos und steht für Selbstbestimmung, Eigentumsrechte und Chancengleichheit. Außerdem trägt es zur Innovation und zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei. Regierungsdaten zufolge produzieren kleine Unternehmen 16-mal mehr Patente pro Mitarbeiter als größere Firmen. Und während die meisten Neugründungen nicht lange überleben, expandieren diejenigen, die sich durchsetzen, schnell und schaffen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Arbeitsplätzen.“
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Wenn also die unternehmerische Aktivität nachlässt, müssen die Alarmglocken schrillen. Die Selbständigenquote beispielsweise gibt den Anteil der Personen an, die sich aus unterschiedlichsten Gründen für eine Tätigkeit in Eigenverantwortung entschieden haben. Nicht alle sind klassische Unternehmer, aber die Selbständigkeit ist ein notwendiger Schritt zur Gründung einer Firma. In den 20 Jahren vor der Finanzkrise lag die Quote in den USA bei 8 Prozent und in der EU bei 19. Danach sank sie in Europa auf 16 Prozent und auf 7 Prozent in den USA, wie Daten der OECD zeigen.
Weniger Unternehmensgründungen
Mehr Bürokratie führt zu weniger Unternehmensgründungen. Das Congressional Budget Office der USA schätzt, dass der Rückgang des Unternehmertums das Produktivitätswachstum um drei bis vier Prozent verringert hat. Dies schlägt sich in höheren Preisen und weniger neuen Arbeitsplätzen nieder.
Trotz gegenteiliger Versprechen gelingt es der Politik nicht, den Dschungel an Vorschriften zu roden und genau zu prüfen, welche Auflagen es gibt und wo man über das Ziel hinausschießt. „In Wirklichkeit ist das US-Regulierungswesen gerade deshalb so reformresistent, weil es ein politisches Ausbeutungssystem ist – eines, bei dem verschiedene Sonderinteressen von der Gunst der Regierung profitieren“, kritisiert Katz.
Ihre Fallstudie zu den USA lässt sich auf Europa gut übertragen, wo mit der EU eine zusätzliche Regulierungsebene besteht. Die deutlich niedrigere Produktivität in den EU-Ländern ist nicht nur für sich genommen eine Gefahr für unseren Wohlstand, sondern mindert zusätzlich Europas Wettbewerbsfähigkeit.
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Für den prominenten Unternehmer und ehemaligen SPÖ-Politiker Hannes Androsch ist klar, dass Europas Wirtschaft in der Klemme steckt und wir gerade dabei sind, unseren Trumpf zu verspielen, wie er in seinem Kommentar für Pragmaticus schreibt: „Ungeachtet aller Herausforderungen, die nur durch eine realitätsbasierte und technologie-offene Energie- und Klimapolitik zu lösen sind, ist es doch die Industrie, die qualifizierte Beschäftigung sowie eine wesentliche Grundlage unseres Wohlstandes und der Finanzierung unseres weltweit im Spitzenfeld liegenden Sozialstaates schafft. Mit ihren Exporten ermöglicht sie die Abdeckung der notwendigen Importe. Dafür benötigt die Industrie aber wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen. Diese haben sich sowohl in Europa als auch im Verhältnis zu den USA und China deutlich verschlechtert.“
Schleichende Deindustrialisierung
Ein Vergleich der zwei Phasen vor und nach der Finanzkrise zeigt diese Entwicklung deutlich. Zwischen 1995 und 2007 ist die Industrieproduktion in den Ländern der (heutigen) Eurozone um rund ein Drittel gewachsen, danach eingebrochen und erreichte erst 2021 wieder das Vorkrisenniveau. Ähnlich in den USA, wo die Industrie in der ersten Phase satte 46 Prozent zulegte und nach dem Absturz noch immer nicht den vorherigen Wert erreicht hat, wie Daten der OECD zeigen.
Der große Unterschied zwischen den beiden Regionen offenbart sich an den Weltbörsen: Im „MSCI All Country World Index“, der die wertvollsten Unternehmen der Welt umfasst, belegen US-Techunternehmen sieben der Top-10-Positionen. Der wertvollste Industriekonzern ist der amerikanische E-Auto-Hersteller Tesla. Europa hat im Gegensatz zu den USA keine neuen Champions anstelle der stagnierenden Industriekonzerne hervorgebracht.
Deutschland, das kannst du besser
In Deutschland ist die Resignation weit vorangeschritten, wie eine rezente Umfrage des Verbandes „Die Familienunternehmer“ unter 845 seiner Mitglieder bezeugt. Demnach würde mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) ein Unternehmen künftig in einem anderen Land als Deutschland aufbauen.
Immerhin hat es Österreichs Industrie in den Jahren seit der Finanzkrise geschafft, sich mit einem Produktionszuwachs von über 20 Prozent überdurchschnittlich gut zu entwickeln. Doch diesen Erfolg zu halten wird eine Herausforderung, wie Androsch betont: Geburtenschwache Jahrgänge und früheres Pensionsantrittsalter, unzulängliche Integration und nicht zuletzt ein unzeitgemäßes Bildungswesen bescheren den Betrieben Personalnot.
Die Produktivität werde durch die hohe Abgabenbelastung geschmälert, schreibt Androsch. Außerdem leide die heimische Industrie unter dem schwachen Risikokapitalmarkt, steigenden Umweltauflagen und zu langen Bewilligungszeiten. Als wäre das nicht genug, treibt die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten die Produktionskosten in die Höhe.
Zukunftsvergessene Politik
Für den Experten steht fest, was zu tun wäre: „Obwohl hierzulande entsprechend dem Motto ‚Koste es, was es wolle‘ ein inflationsfördernder monetärer Konfettiregen ausgestreut wurde, ist man gleichzeitig zukunftsvergessen knausrig bei der Förderung der Techologien von morgen, etwa in der Mikroelektronik oder der künstlichen Intelligenz. Kein Wunder also, wenn die Innovationsdynamik Österreichs gegenüber der Schweiz, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern deutlich zurückgegangen ist. Um aufzuholen, müssen wir endlich die Macht der Innovation erkennen.“
„Kein Wunder, wenn unsere Innovationsdynamik zurückgegangen ist. Um aufzuholen, müssen wir endlich die Macht der Innovation erkennen.“
Während die USA oder China ihre Produzenten unterstützen und eine Re-Industrialisierung betreiben, könnten immer mehr Betriebe aus Europa abwandern, fürchtet Androsch: „Unsere wirtschaftliche Basis, zu der inzwischen auch ganz wesentlich der Digitalbereich gehört, muss ähnlich umfassend unterstützt werden, wie dies andernorts geschieht. Dazu gehört auch eine umfassende Neuausrichtung des Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystems. Geschieht das nicht, wird diese Basis immer schwächer. Die Folgen wären wohl eine drastische Wohlstandsminderung und eine notwendige Reduktion unserer Sozialleistungen.“
Große Errungenschaften unserer Wohlstandsgesellschaft zu verlieren mag vielen unvorstellbar erscheinen. Doch selbst wer weniger pessimistisch in die Zukunft blickt, könnte sich die Frage stellen, ob die Menschheit nicht schon viel weiter sein müsste.
Wo bleiben die fliegenden Autos?
Chinas Aufstieg wird im Westen als zunehmend bedrohlich wahrgenommen. Der Hauptgrund ist die schiere Größe der Volksrepublik, nicht die Angst davor, beim Wohlstand pro Kopf oder technologisch abgehängt zu werden. Letztlich bestehe Pekings Erfolgsrezept darin, Methoden und Technologien zu übernehmen, die bereits im Westen etabliert waren: Stahlwerke, Kohlekraftwerke, Autofabriken, Autobahnen, Eisenbahnen, Schiffe und Millionen von Lastwagen.
So sieht es jedenfalls der amerikanische Autor und Innovationsforscher in seinem Report für den Pragmaticus. Die Innovationskraft der Menschheit schwächle schon seit einem halben Jahrhundert, meint Hall. Wobei die Bilanz durchwachsen sei. „Einerseits haben die letzten fünfzig Jahre natürlich einige Innovationen hervorgebracht: Computer und digitale Kommunikation stechen besonders hervor. Mobiltelefone von heute übertreffen das, was sich Science-Fiction-Autoren der 1960er-Jahre vorgestellt hatten. Wir können jetzt Videoanrufe tätigen und auf einem Bildschirm shoppen.
Andererseits haben wir keine fliegenden Autos bekommen. Oder große Raumstationen oder Kolonien auf dem Mond oder Mars. Wir haben auch keine Roboter-Butler und -Dienstmädchen.“ Das gilt nicht nur bei Verbraucherprodukten. Kürzlich analysierte eine Gruppe von Wissenschaftlern im renommierten Fachmagazin „Nature“ Millionen von Forschungspublikationen und Patenten von den 1950er- bis zu den 2010er-Jahren. Die Experten bewerteten, wie disruptiv ein wissenschaftliches Ergebnis oder eine Erfindung war – also ob dadurch unsere Vorstellungen oder Fähigkeiten auf unerwartete Weise wesentlich verändert wurden.
Die Studie stellte fest, dass die Disruption in dem Zeitraum nach ihren Maßstäben um drei Viertel eingebrochen ist. Wie konnte das passieren?
Zahlen & Fakten
Menschheit hielt nicht Schritt
Möglich ist natürlich, dass die Propheten von einst zu hohe Ansprüche hatten und sich eine Zukunft erträumten, die gar nicht möglich war. Oder aber die Science-Fiction-Autoren früherer Tage hatten zwar die mögliche technologische Entwicklungskurve richtig erkannt, aber die Menschheit kam davon ab.
Storrs Hall geht von Letzterem aus. Er meint: „Wenn man die vorhergesagten Technologien danach einteilt, ob sie realisiert wurden, und ihren notwendigen Energieeinsatz berücksichtigt, erkennt man Folgendes: Keine vorhergesagte Erfindung, die über zehn Kilowatt pro Kopf und Stunde erfordert, ist heute Realität. Bei den Erfindungen der letzten Jahrzehnte gibt es natürlich Abweichungen von den Vorhersagen, die auf verschiedene Fehlerquellen hindeuten, etwa die Erwartungen für stromsparende Technologien, die viel zu zaghaft waren.“
Wir verwenden heute nur ein Drittel der Energie, die uns laut historischem Trend zur Verfügung gestanden wäre.
Mit anderen Worten: Alle Vorhersagen gingen davon aus, dass uns heute mehr Energie zur Verfügung stehen würde, als es tatsächlich der Fall ist. Wie konnten sie alle denselben Fehler machen? Laut Storrs Hall setzten sie einen historischen Trend von exponentiell wachsender Energieverfügbarkeit fort, der bis zu den Anfängen der industriellen Revolution zurückreicht.
Was die Vorhersager nicht wissen konnten: Die Kurve flacht seit den 1970er-Jahren bei einem Verbrauch von etwa zehn Kilowatt pro Kopf und Stunde ab. Wir verwenden heute nur ein Drittel der Energie, die uns laut historischem Trend zur Verfügung gestanden wäre.
„Wenn wir uns die Zivilisation als ein Flugzeug vorstellen, waren unsere Motoren bis etwa 1970 in Betrieb, und wir waren im Aufstieg begriffen. Dann stotterten sie und starben ab, und wir gleiten nun. Wir stehen keineswegs vor einem Absturz; man kann aus einer guten Höhe sehr weit gleiten. Aber jede Minute ohne Motor beschränkt die Möglichkeiten, wo wir letztendlich landen werden“, sagt der Innovationsforscher.
Angst vor der Arbeit ablegen!
Wie bringen wir den Motor wieder auf Touren? Wenn die Vergangenheit uns eines gelehrt hat, dann, dass man Fortschritt auch wollen muss, ist Joshua Storrs Hall überzeugt: „Eine große Anzahl von Menschen hat die Errungenschaften der Zivilisation als selbstverständlich angesehen und ihre Anstrengungen auf andere Ziele konzentriert.
Wir müssen uns daran erinnern, dass die Vorteile der Modernisierung – angefangen bei der einfachen Tatsache, dass wir in kalten Winternächten nicht im Dunkeln frieren müssen – durch Generationen lebenslanger Mühen erworben wurden. Wenn Menschen jetzt versuchen, unsere Motoren neu zu starten, müssen sie unterstützt, geschätzt und nachgeahmt werden. Wir müssen unsere kollektive Angst vor der Arbeit ablegen.“
Länger arbeiten sollte kein Tabuthema sein
Wie solche kollektiven Anstrengungen ausschauen können, ließ sich in den USA während des Kalten Krieges besichtigen. Das Wettrennen der beiden Supermächte um die Vorherrschaft im Weltraum führte in den USA dazu, dass Mitte der 1960er-Jahre von zehn Dollar, die der Staat in zivile Forschung steckte, sechs in die Raumfahrt flossen.
Mit Erfolg, wie die Mondlandung gezeigt hat. Doch nach diesem Meilenstein der Menschheitsgeschichte stagnierten die öffentlichen Forschungsausgaben. Erst 1985 erreichten sie wieder das Niveau der 1960er-Jahre, als ein zweiter Ausgabenschub einsetzte – und bis zur Finanzkrise 2008 andauerte. Der Großteil der Mittel floss jedoch in den Pharmabereich.
Trotz großspuriger Ansagen zur Energiewende spielt der für die Zukunft entscheidende Sektor weiterhin eine untergeordnete Rolle. Von 100 Dollar, die – noch vor der Pandemie, wohlgemerkt – in zivile Forschung flossen, gingen 26 Dollar an den Gesundheitssektor und nur 25 Cent in den Energiebereich.
Solche Unterschiede wären egal, wenn der Forschungsetat insgesamt enorm gestiegen wäre. Doch gemessen am US-Bruttoinlandsprodukt haben sich die öffentlichen Forschungsausgaben seit den 1970er-Jahren fast halbiert. Es liegt allein am privaten Sektor, dass die Forschungsgelder leicht stiegen. Private stecken jedoch aus beriebswirtschaftlichen Überlegungen viel weniger Geld in Grundlagenforschung.
Wenig Neues in der Kernphysik
Es lässt sich schwer abschätzen, wo wir heute stünden, wenn die USA im Anschluss an das gewonnene Rennen um die Mondlandung alle Kräfte gebündelt hätten, um die Abkehr von fossilen Energieträgern zu forcieren – und vielleicht ein Atomzeitalter eingeläutet hätten, das dem Namen gerecht wird.
Storrs Hall: „Für unsere Zukunft ist es genauso wichtig, die Kernphysik als Wissenschaft wiederzubeleben. Es gibt viele Möglichkeiten, Energie aus Kernkraft zu gewinnen. Noch sind Kettenreaktionen umständlich und unflexibel. Der Mangel an bahnbrechenden Erfindungen ist nirgendwo so deutlich wie in der Kernphysik.“ Darauf verweist auch der Physiker Carver Mead vom Caltech Institute: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die letzten sieben Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als das dunkle Zeitalter der theoretischen Physik in die Geschichte eingehen werden.“
Der Traum von der Energie aus der Wüste
Woran hakt es noch? Ähnlich wie in der Privatwirtschaft ist auch in der Grundlagenforschung die wachsende Bürokratie ein Bremsklotz für Innovation. Der Physiker Leó Szilárd, Entdecker der Kettenreaktion, schrieb vor über 80 Jahren eine Kurzgeschichte darüber, wie man wissenschaftlichen Fortschritt verhindern kann: „Erst mal ist wichtig, dass die besten Wissenschaftler nicht in ihren Laboren arbeiten, sondern in Komitees sitzen, die Anträge auf Finanzierung prüfen. Die Forscher, die Fördermittel benötigen, würden sich auf Fragestellungen konzentrieren, die als leicht zu beantworten gelten, und Ergebnisse liefern, die sich leicht publizieren lassen. Für ein paar Jahre mag es einen großen Zuwachs an wissenschaftlichem Output geben; aber wenn man nur den naheliegenden Lösungen nachgeht, würde die Wissenschaft ziemlich bald austrocknen.“
Forschergeist entfesseln
Für Storrs Hall hat Szilárd eine jener Fiktionen geschrieben, die sich später bewahrheiteten. Um den wissenschaftlichen Fortschritt wieder auf Schiene zu bringen, brauche die Menschheit viel mehr Energie, und zwar aus nicht fossilen Quellen.
Zum Fortschritt gehören für den Experten somit drei Komponenten: kollektive Anstrengung, entsprechende Mittel und ein Wissenschaftsbetrieb, der Forschern mehr Raum gibt, großen Ideen nachzugehen. Seit über einem halben Jahrhundert schwindet also die Innovationskraft der Menschheit. Demografisch begünstigt und dank der Globalisierung expandierte die Wirtschaft trotzdem über lange Zeit weiter. Jetzt findet ein Umbruch statt. Um unseren Wohlstand zu sichern, müssen wir wieder produktiver werden und den Erfindergeist wieder- entdecken, der die Menschheit so weit gebracht hat.
Conclusio
Seit der großen Rezession 2008 erleben die Industriestaaten eine wirtschaftliche Flaute. Dahinter steht vor allem das deutlich verlangsamte Wachstum der Produktivität. Der vorangegangene Boom war Folge einer historischen Ausdehnung der weltweiten Zahl an Arbeitskräften und disruptiver Innovationen. Doch die demographischen Trends drehen seit gut zehn Jahren, die Innovationskraft lässt schon länger nach. Hinzu kommt, dass zunehmende Regulierung und bürokratische Schikanen Unternehmertum hemmen. Europa hat den Anschluss in der IT-Branche verpasst, und seine Industrie gerät zunehmend unter Druck. Viele Erfindungen, die man vor hundert Jahren vorhergesagt hatte, wurden gar nicht verwirklicht. Ein Revival der Grundlagenforschung und mehr Anstrengung sind überfällig, um neuen Ideen den Weg zu ebnen.