Was uns Satelliten über Lawinen erzählen können
Thomas Gölles forscht an der Universität Graz daran, mit Satelliten und Künstlicher Intelligenz Lawinen zu überwachen und zu prognostizieren.

Im Jahr 2015 ereilte Spitzbergen eine Katastrophe. Der nördlichste Ort der Erde wurde von einer gigantischen Lawine überrollt. Und mittendrin: Thomas Gölles, der dort für seinen PhD Prozesse im Eisschild Grönlands modellierte. „Das ganze Dorf ist zusammengekommen und hat geschaufelt“, erzählt er. „Und du weißt nicht: Schaufle ich da gerade meinen Kumpel aus?“ Ein Freund sei mit seiner Familie beim Frühstück gesessen, als die Lawine in der Wohnung landete. „Die haben in ihrer eigenen Küche ihre Kinder freigeschaufelt.“ Sie überlebten; und es wirkt wie ein Wunder, dass es insgesamt nur zwei Tote gab.
Mehr Forschungsreisen
„Das war extrem“, sagt Gölles heute, zehn Jahre später. Er sitzt in seinem Büro am Institut für Geographie und Raumforschung der Uni Graz, und forscht dort an – Lawinen. Das Ereignis hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Seine Forschung zielt darauf ab, Lawinen besser vorhersagen zu können. „In Spitzbergen gab es damals gar kein Lawinenwarnsystem“, sagt er.
Lawinen aus dem All entdecken
In Österreich mit all seinen Skigebieten ist das natürlich anders, und vor allem Tirol sei, was Lawinenwarnungen betrifft, ein Vorbild für viele andere Regionen. Aber trotzdem weiß kein Mensch, wie viele Lawinen in Österreich jedes Jahr abgehen – diese Daten werden einfach nicht erfasst. „Der Lawinenwarndienst weiß nicht, wie viele Lawinen in einem gewissen Zeitraum beispielsweise in Tirol abgegangen sind.“
Die Lösung, die Gölles und seinem Team eingefallen ist: Eine Kombination aus Satellitendaten und Machine Learning. Die beiden Sentinel-Satelliten der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA senden alle paar Tage Radardaten aus den Alpen zurück auf die Erde, mit diesen frei zugänglichen Daten wird mittels Vorher- / Nachher-Bildern eine Künstliche Intelligenz gefüttert. Diese soll irgendwann automatisiert erkennen, wo eine Lawine abgegangen ist.
„Die Idee ist, diese Daten an den Lawinenwarndienst weiterzuleiten, der Vorhersagen macht – damit der abgleichen kann, wie gut seine Vorhersagen waren“, sagt Gölles. „Wenn man die Lawinenwarnstufe zu hoch einstuft, sperrt man ein ganzes Skigebiet wie Lech ab, was viel Geld kostet; und wenn man sie zu niedrig einstuft, gefährdet man Menschenleben.“
Der Klimawandel ändert vieles
Außerdem wollen Gölles und sein Team Lawinen besser verstehen lernen. „Wir wollen die Lawinendaten mit Wetterdaten verbinden. Wie wichtig ist der Wind, wie wichtig sind Temperaturänderungen? Das wollen wir quantifizieren“, sagt er. Vor allem, weil sich durch den Klimawandel derzeit vieles ändert. „Der Schnee kommt später und ist feuchter. Gleitschneelawinen werden damit ein größeres Problem, das sind solche Lawinen, die gleich am Untergrund abgehen“, erklärt Gölles.
„Im Vorjahr hatten wir die ganze Saison lang ein Gleitschneeproblem, das hat man normalerweise erst im Frühjahr.“ Wenn der Schnee später und in höheren Lagen fällt, ändert das vieles – unter anderem auch, wo Lawinen abgehen. Das ist deshalb gefährlich, weil Häuser, die früher nicht gefährdet waren, nun plötzlich in neuen Lawinengebieten stehen.
Bedarf für eine optimierte Lawinenvorhersage gibt es also auf jeden Fall. Aber es ist auch für eine Künstliche Intelligenz keine ganz einfache Aufgabe, auf den Bildern zu erkennen, ob tatsächlich eine Lawine abgegangen ist. „Das Modell liegt bei einer Trefferquote von 65 Prozent“, sagt Gölles.
Ein Auto-Sensor soll in Echtzeit vor Lawinen warnen
Deshalb gibt es auch noch ein zweites Projekt, das helfen soll, die Satellitendaten zu verifizieren. Über einen Kollegen, den er in Spitzbergen traf und der am autonomen Fahren forscht, kam er mit Lidar-Geräten in Kontakt. Die sind hauptsächlich eben in Autos verbaut und dienen zur Abstands- und Geschwindigkeitsmessung per Laser. „Autonomes Fahren wird ohne Lidar nicht möglich sein, auch wenn Tesla etwas anderes behauptet“, sagt Gölles.
Er hat die Systeme aber umgebaut, um sie so kälteunempfindlich wie möglich zu machen – und zur Lawinendetektion vor Ort einzusetzen. Was für Gölles den Vorteil hat, dass er nicht nur im Büro Daten analysiert. „Schnee hat mir immer schon gefallen, das ist bis heute so. Wenn es schneit, freue ich mich. Da bin ich dann immer noch wie ein kleines Kind“, erzählt er.
Mit den Lidar-Systemen „wollen wir zum einen unsere Satellitendaten überprüfen und es zum anderen für Echtzeitwarnungen nutzen.“ Das System könnte über große Mengen an Neu- oder Triebschnee informieren oder einen Alarm auslösen, sobald sich eine Lawine löst. Oder: Wenn Lawinen gezielt per Sprengung ausgelöst werden, ist oft nicht gleich klar, ob das Unternehmen erfolgreich war, also wie viel Schnee wirklich abgegangen ist. „Denn gesprengt wird natürlich außerhalb des Skibetriebs, wenn es dunkel ist.“
Das Problem Europas
Während die Satellitendaten gratis zur Verfügung gestellt werden, sollen die Lidar-Systeme kommerziell verwertet werden. Von US-amerikanischen Verhältnissen ist Österreich natürlich immer noch weit entfernt, aber Gölles glaubt, dass die Bereitschaft, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Produkten zu machen, stetig steigt. „Bei der Uni Graz wird da viel gefördert und im Idealfall gehen Forschung und kommerzielle Verwertung Hand in Hand“, sagt er. Auch wenn es noch vieles zu verbessern gäbe: „Das Problem ist, dass jedes Land in Europa fünf oder zehn Gesellschaftsformen hat und ein amerikanischer Investor hat keine Ahnung, was das ist, wenn man dem sagt, man macht eine GmbH. Das macht es schwierig für internationale Investoren. Aber prinzipiell sind Geld und Wille da“, sagt er.
Gölles hofft, an der Entwicklung teilhaben zu können; und gleichzeitig die Alpen sicherer zu machen.
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast bei Peter Turchin vom Complexity Hub, der die USA vor einem Bürgerkrieg sieht, hat mit Stefan Mayr von der Uni Innsbruck über die Zukunft der Alpenwälder unterhalten und sich von Lisa Bugnet am ISTA erzählen lassen, wie die Sterne klingen. Alle Forschungsreisen können Sie hier nachlesen.