Alpen ohne Eis

Die Chance für unsere Anpassung an das neue Klima ohne Gletscher ist größer, wenn wir von der Natur lernen – und die Zwei-Grad-Grenze einhalten.

Der Gepatscherferner in den Ötztaler Alpen wird in jedem Jahr vermessen, um Geschwindigkeit und Ausmaß des Rückzugs der Gletscher zu dokumentieren.
Bei der jährlichen Messung des Gepatschferner über dem Kaunertal in den Ötztaler Alpen im August 2023. In dem Jahr verlor der Gletscher 27 Meter an Länge. Im Durchschnitt waren es in Österreich 23 Meter. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Beschleunigung. Das Eis verschwindet großflächig und immer schneller. Der baldige Verlust der Ostalpengletscher ist vorgezeichnet.
  • Intensivierung. Mit zunehmender Klimaerwärmung und ohne die Gletscher als Puffer werden Naturgefahren häufiger und zerstörerischer.
  • Begrenzung. Das Limit von zwei Grad sollte eingehalten werden, damit Anpassung an die geänderten Bedingungen möglich ist.
  • Anpassung. Der Rückzug des alpinen Eises ist eine Chance, die notwendigen generationenübergreifenden Entscheidungen zu treffen.

Grau liegen die Reste einst stolzer Gletscher auf den Bergflanken der Ostalpen. Die mächtigen Eisriesen, wie sie auf Gemälden aus dem 19. Jahrhundert dargestellt sind, gibt es nicht mehr. Die Gletscherenden sind eingesunken und von Schutt bedeckt. Kreisförmige Spalten, Felsinseln und Trichter zeigen den Zerfall der einst geschlossenen Eisflächen an. Es ist der Anfang vom Ende der Gletscher in den Alpen. Was kommt jetzt?

Die Zukunft der Alpen

Seit der Jahrtausendwende schrumpfen die Gletscher besonders schnell. Ein kurzer Überblick: Im Hitzesommer 2003, damals als „Jahrtausendsommer“ tituliert, schmolz erstmals eine im Mittel über zwei Meter dicke Eisschicht ab. Rasch folgten sogar noch heißere Jahre, und 2022 schmolz gar eine drei Meter dicke Eisschicht ab. Ein solches Volumen war bis dahin auch für Forscher kaum vorstellbar gewesen.

Die verbleibenden Eisflächen sind dünn, jeder Tag Schmelze kostet zehn Zentimeter Eisdicke, und so schrumpft das Eis immer schneller. 2023 verlor der Jamtalferner im Silvrettagebiet fast zehn Prozent seiner Fläche. Das bedeutet: Die meisten der heute lebenden Menschen werden das „ewige Eis“ der Gletscher überleben.

Was bleiben wird, sind Eisreste

Seit dem Hochstand von 1850 haben die Ostalpengletscher etwa 75 Prozent ihrer damaligen Fläche eingebüßt – hauptsächlich an den Zungen. Was ist jetzt anders als früher? Heute zerfällt das Eis großflächig, bis hinauf zu den höchsten Gipfeln. War der Rückgang früherer Jahrzehnte vergleichbar mit dem unspektakulären Altern im mittleren Lebensabschnitt, geht es nun in Richtung Tod, denn den Gletschern kommen ihre Nährgebiete abhanden, es bildet sich aus Schnee kein Eis mehr.

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Zahlen & Fakten

Das Abschmelzen wird bei jedem Gletscher unterschiedlich lang dauern. Manche sind oder werden klein genug, um sich unter Lawinenschnee oder Schutt vor der Sonneneinstrahlung zu verstecken und dort länger zu überleben als ungeschützte Eisflächen. Es gibt daher unterschiedliche Berechnungen zum Abschmelzen der Alpengletscher, aber alle kommen zu dem Schluss, dass am Ende dieses Jahrhunderts die Ostalpen nur noch maximal zehn Prozent des heutigen Eises haben werden.  

Dieser Verlust lässt sich abbremsen: Ein Ergebnis der Forschung ist nämlich auch, dass jede Einsparung von Treibhausgasemissionen die Lebenszeit der Gletscher verlängert. Und es gibt die Chance, dass die Gletscher zurückkehren, wenn wir es jetzt schaffen, die globale Erwärmung auf etwa zwei Grad Celsius zu begrenzen. Dann kann es zum Ende dieses Jahrhunderts wieder kühler werden, wobei die Neubildung des Eises einige Jahrzehnte dauern wird.

Optionen für die Zukunft

Das klingt alles sehr weit weg. Es ist aber wichtig, dass wir unsere Entscheidungen für Generationen und nicht nur für die nächsten Jahre treffen – in Anlehnung an den Imperativ des Physikers Heinz von Foerster: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“

Wir sollten uns daher kurz die Veränderlichkeit der Eismassen, die unsere Landschaft geformt haben, vor Augen halten, denn unsere direkten Klima- und Gletschermessungen geben nur einen Teil der Dynamik des Systems wieder.

Das Eis hat die Alpentäler geformt und erst vor etwa 12.000 Jahren freigegeben; vor etwa 18.000 Jahren (zum letzten glazialen Maximum) waren die Alpen noch fast gänzlich unter Eis, und während der letzten 10.000 Jahre waren die Gletscher überwiegend kleiner als heute. Die wärmste Zeit, das sogenannte holozäne Optimum vor 5.000 bis 8.000 Jahren, an dessen Ende Ötzi, der Eismann, starb, war etwa so warm wie heute – aber aus anderen Gründen.

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Zahlen & Fakten

Drei Männer in Winterbekleidung mit Pickeln und Schneestöcken bergen einen mumifizierte Leiche aus Schnee und Eis. Es handelt sich um „Ötzi“, der mumifizierte Eismann aus der Kupfersteinzeit.
Am 23. September 1991 auf dem Tisenjoch in den Ötztaler Alpen: Die Gerichtsmedizin Innsbruck bei der Bergung der Eisleiche, die heute als „Ötzi“ aus der Kupfersteinzeit bekannt ist. Ein Ehepaar aus Nürnberg hatte vier Tage zuvor die Mumie entdeckt. © Getty Images

Ötzi und der plötzliche Klimawechsel

  • Ötzi starb im Frühjahr oder Frühsommer zwischen 3350 und 3120 v. Chr. auf dem Tisenjoch, er wurde vermutlich ermordet, man entdeckte eine Pfeilspitze in seiner Schulter.
  • Ötzi ist ein Vertreter der Bauerngesellschaften, die die Landwirtschaft nach Europa brachten und hat daher anatolische Vorfahren, zeigen die DNA-Analysen. Ötzi starb auf einem Alpenpass, der zu einem ganzen Netzwerk von Lagerplätzen und Wegen durch die Alpen gehörte, wie archäologische Untersuchungen nach dem Fund Ötzis zeigen.
  • Bis zu einer Studie von Andrea Fischer gemeinsam mit weiteren Glaziologen und Archäologen ging man davon aus, dass Ötzi unmittelbar nach seinem Tod im Eis eingeschlossen wurde. Als Ötzi tödlich getroffen wurde, hatten die Gletscher in den Alpen zum zweiten Mal im Holozän eine minimale Ausdehnung, aber eine erneute Vergletscherung hatte bereits begonnen.
  • Vollständig eingefroren in der Vertiefung, wo man ihn fand, wurde Ötzi vermutlich erst um 1800 v. Chr. Das zeigen unter anderem die Spuren organischen Materials, die älter und jünger sind als Ötzi. Bis zum Abschmelzen des Eises durch die heutige Erwärmung war Ötzi gut 3.800 Jahre unter Eis.
  • Gestorben ist Ötzi vermutlich im Schnee und wurde mit diesem in die Vertiefung gespült, wo man ihn fand.
  • Hinweise auf einen plötzlichen Klimawandel liefert Ötzi nicht. Forschungen zeigen vielmehr, dass sich seit dem frühen Holozän – die Warmzeit seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren – etwa 9.000 Jahre vor heute, die globale Mittel-Temperatur langsam und kontinuierlich um ein halbes Grad erhöhte. Die heutigen Temperaturen liegen 1,5 Grad über der mittleren Temperatur des Holozän, das ist der Klimabereich, an den sich die Tier- und Pflanzenarten der Alpen angepasst haben.
Darstellung der Temperaturabweichung in Österreich im Vergleich zum Jahresmittel 1961-2010.
Temperaturabweichung in Österreich im Vergleich zum Jahresmittel 1961 bis 2010 (Referenzwert). Die Daten stammen von Geosphere Austria und Berkeley Earth. © Climate Stripes, Ed Hawkins, University of Reading

Dieser Wechsel zwischen den kalten Eiszeiten und den warmen Zwischeneiszeiten, der in den Eisbohrkernen der Antarktis für derzeit 880.000 Jahre nachgewiesen ist, wird durch Änderungen der Sonneneinstrahlung verursacht, die sich durch die Bewegung der Erde um die Sonne erklären – die Erde torkelt ein wenig.

Die heutige Erwärmung resultiert aus der Zunahme der Treibhausgase in der Atmosphäre, und leider ist diese Erwärmung nur ein Durchgangsstadium. Es ist zu erwarten, dass es in den nächsten Jahrzehnten in den Alpen noch wärmer wird, als es zum holozänen Optimum war.

Grenzen der Anpassung

Damit bewegen wir uns auch aus dem Bereich gesicherten Wissens hinaus, das uns helfen könnte, uns anzupassen. Unser Umgang mit der Natur, Forst- und Landwirtschaft, Schutzmaßnahmen vor Naturgefahren und Raumordnungspläne basieren auf Erfahrungswissen. Überschreiten wir eine globale Erwärmung von zwei Grad Celsius im globalen Mittel, kann Anpassung sehr teuer oder unmöglich werden.

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Zahlen & Fakten

Eine Alpenmargerite hat am Rande des Sees Fuß gefasst, den der schmelzende Rhone-Gletscher zurücklässt. Im Hintergrund sind die Planen zu sehen, mit denen die Eisgrotte am Gletscher geschützt werden soll. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Gletscher der Alpen.
Eine Alpenmargerite am Ufer des neuen Sees, den der schmelzende Rhone-Gletscher zurücklässt. © Getty Images

Gemischtes Erbe: Was vom ewigen Eis bleibt

  • Der Rückzug der Gletscher geschieht nicht leise: Durch das Abschmelzen der Eismassen verlieren die Bergflanken an Stabilität. Die Gletscherschmelze erhöht die Gefahr von Berg- und Felsstürzen.
  • Das lockere Material von Ufer- und Endmoränen ist besonders anfällig für Murgänge, weil es sich bei Starkregen und stärkeren Abflüssen vom Gletscher leicht löst.
  • Schmelzende Gletscher schleppen mitunter in ihrem Inneren Wassertaschen mit, die plötzlich aufbrechen können, wenn sie stark gefüllt sind.
  • Die neuen Seen, in der Schweiz sind es derzeit etwa 18 im Jahr, sind ebenfalls eine potenzielle Quelle alpiner Gefahren: Durch Starkregen-Ereignisse oder Felsstürze in den See können Seeausbrüche und Flutwellen ausgelöst werden, die in dem dicht besiedelten Gebiet der Alpen viele Orte gefährden.
  • Die Seen sind aber zugleich potenziell energetisch nutzbar oder können eine wichtige Rolle für Bewässerung und Trinkwasserversorgung spielen, wenn die Gletscher als Wasserspeicher wegfallen.
  • Auf den zunächst vegetationslosen Gletschervorfeldern siedeln sich im Verlauf der Jahre verschiedene Pflanzen an, zunächst Pioniere mit geringen Ansprüchen, die auch als Bodenbildner wirken. Dieser Prozess der Sukzession braucht Zeit.

Eisfreie Alpen müssen nicht hässlich sein, Pflanzen siedeln sich rasch in den derzeit kargen Vorfeldern an, neue Seen bilden sich in den ehemaligen Gletscherbetten. 2017 zeigte eine Studie am Jamtalferner in der Silvretta, dass sich innerhalb von drei Jahren nach der Eisschmelze zwanzig verschiedene Arten ansiedelten.

Nicht nur Gräser, Moose und Blütenpflanzen, sondern auch Büsche und Bäume finden sich nah an den Eisresten. Das ist wichtig, weil die unterschiedlichen Wurzellängen den Untergrund festigen, der insbesondere in den ersten Jahren nach dem Verschwinden eines Gletschers durch Starkniederschläge leicht mobilisierbar ist. Generell steigt die Steinschlag- und Felssturzgefahr rund um die Gletscher kurzfristig.

Ebenso führen Gletscherbäche derzeit mehr Wasser. Dieser Abfluss wird in den kommenden Jahrzehnten wieder abnehmen. Aufgrund des geringen Anteils der Gletscher an der Gesamtfläche Österreichs ist jedoch hierzulande kein Wassermangel zu erwarten.

Vergangenheit loslassen

Wir können die Gletscher zwar vorerst nicht retten, aber wir können die Folgen ihres Verschwindens und die Kosten der Anpassung überschaubar halten. Was uns Mut machen sollte: Schon vor Jahrtausenden haben Menschen es geschafft, mit drastischen Klimaänderungen umzugehen, obwohl sie mit sehr viel schwierigeren Lebensumständen zurechtkommen mussten: Sie lebten in kleinen Gesellschaften, ohne politische Organisation.

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Zahlen & Fakten

Allerdings scheint, wie archäologische Untersuchungen der Resilienz von Gesellschaften zeigen, die Sesshaftigkeit ein Nachteil bei der Anpassung an geänderte Umweltbedingungen zu sein. Die Folgen des Klimawandels bieten die Chance, viele Themen neu zu denken, zum Beispiel unsere kulturellen Praktiken und Werte, wie etwa das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum oder auch die Nutzungs- und Eigentumsverhältnisse.

Ein reines Festhalten an dem, was in der Vergangenheit funktioniert hat, ist dagegen nicht zukunftsfähig. Nur der gemeinsame gestalterische Umgang mit Veränderung kann eine Zukunft für uns alle schaffen. Gerade die Gletscher, die ihre Größe dem Klima anpassen, veranschaulichen, dass steter Wandel nötig ist, um im Gleichgewicht zu bleiben. Sie verdeutlichen aber auch, dass es klare Grenzen gibt, innerhalb derer dieses Gleichgewicht zu halten ist.

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Conclusio

Wenn das vermeintlich ewige Eis verschwindet, entstehen neue Seen, Pflanzen rücken auf die Vorfelder vor. Die Folgen des Verlustes gehen aber über eine veränderte alpine Landschaft hinaus, entscheidend ist die Anpassung an ein instabiles Klima. Naturgefahren nehmen zu, was insbesondere dort, wo Menschen siedeln, hohe Kosten verursachen kann. In der Schweiz wird bereits diskutiert, bestimmte Gebiete aufzugeben. In diesem Sinne kann das Verschwinden des alpinen Eises Auftakt für Veränderung sein, weil es die Notwendigkeit der Emissionsreduktion in Kombination mit umfangreicheren Anpassungsmaßnahmen deutlich macht. Der Umgang mit dem Klimawandel ist Gegenstand politischer Entscheidungen.

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