Kann Mileis Schocktherapie in Argentinien aufgehen?

Er hat radikale Reformen versprochen, muss aber schon nach ein paar Monaten im Amt kürzertreten: Javier Milei, der neue Präsident Argentiniens, trifft auf massive politische Widerstände. Bisher reagierte der ultraliberale Ökonom darauf ziemlich vernünftig.

Nahaufnahme von Argentiniens Präsidenten Javier Milei, der über seine Brille hinweg blickt.
Javier Milei hat große Pläne für Argentinien, fügt sich jedoch pragmatisch. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Krisenmodus. Argentinien steckt seit längerem und wiederholt in einer schweren Wirtschaftskrise, der Javier Milei mit weitreichender Liberalisierung begegnen will.
  • Durststrecke. Der libertäre Politiker hat den Bürgern offen angekündigt, dass seine Reformpläne zunächst mit Einschnitten verbunden sind.
  • Pragmatismus. An der Spitze einer Minderheitsregierung muss der neue Präsident jedoch auf die Opposition eingehen, wozu er bisher bereit war.
  • Spagat. Mileis Erfolg wird davon abhängen, ob er trotz Reformen die sozialen Verwerfungen und damit verbundene Proteste in Zaum halten kann.

Knapp 41 Jahre nach der Niederlage gegen Großbritannien im Krieg um die Falkland Inseln hat Argentinien seine Latino-Version von Margaret Thatcher. Nicht nur die Frisur der beiden weist Ähnlichkeiten auf, auch ideologisch verbindet den neuen Präsidenten Javier Milei mehr mit der ehemaligen Premierministerin und „Iron Lady“ Thatcher als mit seinen Amtsvorgängern.

Politik in Lateinamerika schwankt häufig von einem Extrem ins andere, wie Argentiniens Nachbar im Norden derzeit beweist: In Brasilien wurde der rechtskonservative Jair Bolsonaro vom Salon-Marxisten Luis Ignacio da Silva abgelöst, und bei der nächsten Wahl könnte das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen. Mileis Wahl in Argentinien ist nicht nur die Folge einer großen Sehnsucht nach Veränderung, sondern auch seiner nahezu perfekten Inszenierung als Protestkandidat. Der exzentrische Ökonom tritt gerne mit Motorsäge auf (um damit die angekündigte Kürzung von Staatsausgaben zu symbolisieren) und lässt sich beim Flug in der Economy-Class von seinen Anhängern feiern.

Ob er seine großen Ankündigungen in eine reale Reformagenda umwandeln kann, ist jedoch offen: Mileis Partei, die „La Libertad Avanza“, stellt nur sieben der 72 Senatoren und 38 der 257 Abgeordneten auf Bundesebene und verfügt über keinen einzigen Gouverneur in den Provinzen oder Bürgermeistersitz in urbanen Zentren. Der neue Präsident gleicht einem populistischen Giganten auf tönernen Füßen, und ohne Allianzen mit Mitgliedern der vorangegangen Mitte-Rechts Regierung von Mauricio Macri und – vor allem auf lokaler Ebene – mit aktiven Peronisten werden die angekündigten Reformen rasch in politischen Grabenkämpfen versanden.

Mileis Ambitionen eingebremst

Seine ersten Aktivitäten zeigen, dass sich Milei dessen bewusst ist: So holte er mit Luis Caputo als Wirtschaftsminister und Patricia Bullrich als Ministerin für Innere Sicherheit zwei prominente Mitglieder der Vorgängerregierung in sein Kabinett. Auch wurden die radikalen Pläne zur Abschaffung der Zentralbank und der Dollarisierung der Wirtschaft vorerst auf Eis gelegt.

Das Anfang Februar eingebrachte Reformpaket mit 664 Vorschlägen musste auf knapp die Hälfte reduziert werden, um mit 144 zu 109 Stimmen im Kongress durchzukommen. Ursprünglich war beispielsweise geplant gewesen, 41 Staatsbetriebe zu privatisieren; tatsächlich geworden sind es jedoch nur 27. Auch von den Gerichten kommt Widerstand. So wurde der Versuch, Abschlagzahlungen nach Kündigungen zu reduzieren, als verfassungswidrig abgelehnt. 

Schwere Altlasten

Aber auch die Opposition kann sich nicht wirklich freuen: Argentinien war früher eines der reichsten Länder der Welt – und könnte es dank der vorhandenen Bodenschätze und des Klimas noch immer sein. Entsprechend hoch sind die Erwartungen der Bevölkerung an die politische Klasse. Bei Demonstrationen gegen Milei waren bisher beide Lager bemüht, gewalttätige Zusammenstöße zu vermeiden. Sowohl die neue Regierung als auch die Opposition wollen jeglichen Eindruck der Anarchie vermeiden, und es gibt über die Parteigrenzen hinweg ein Einverständnis, dass Reformen unausweichlich sind.

„Das Land produziert seit langem eine Krise nach der anderen, und jede einzelne endete im Staatsbankrott.“

Nach Jahrzehnten der Misswirtschaft von Regierungen jeglicher Couleur werden Veränderungen besonders in der Anfangsphase mit schmerzlichen Einschnitten verbunden sein. Erste Privatisierungen und Subventionskürzungen bescherten Argentinien zu Jahresbeginn eine Inflationsrate von über 250 Prozent. Das ist nicht nur eine Konsequenz von Mileis Reformeifer, sondern auch einer jahrzehntelangen Politik des Gelddruckens. Die Preise steigen zwar weiter, doch sank im März die Teuerungsrate auf 11 Prozent, der dritte monatliche Rückgang in Folge.

Es darf nicht vergessen werden, dass Argentinien mit 40 Milliarden US Dollar der größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds ist, und in seiner Geschichte bereits neun Mal den Staatsbankrott erklären musste – zuletzt im Jahr 2020. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf stagniert auf dem Niveau von 2009, während etwa der kleine Nachbar Uruguay  im selben Zeitraum ein Wachstum von über 40 Prozent verzeichnen konnte. 

×

Zahlen & Fakten

Weder Milei noch seinen Kritikern würde es gelingen, die jahrzehntelangen Fehlentwicklungen mit ein paar wenigen Reformpaketen und ohne teils drastische Einschnitte zu beseitigen. Das Land produziert seit langem eine Krise nach der anderen, und jede einzelne endete im Staatsbankrott und in der peinlichen Rolle als internationaler Bittsteller. Auch der Internationale Währungsfonds hat in Argentinien schwere Fehler gemacht, das sollte man nicht verschweigen. Aber die strukturellen Probleme der Wirtschaft waren größtenteils hausgemacht. 

Hoffen auf Schocktherapie

Jetzt ist der Reformschock groß, und nach der Abwertung des Peso im Dezember 2023 schnellte der Armutsindex auf über 57 Prozent. „Sechs von zehn Argentiniern sind arm,“ schrieb Milei selbst auf seinen Social Media Kanälen im Februar. Gleichzeitig stärken die Reformen jedoch auch die Glaubwürdigkeit Argentiniens als Investitionsstandort, und der erste Budgetüberschuss in 12 Jahren zeigt, dass die Sanierung der Staatsfinanzen ernsthaft verfolgt wird.

Anders als in Europa hat man in Südamerika durchaus mitbekommen, in welchem Tempo die USA vom Energie-Importeur zum Energie-Exporteur wurden.

Trotz der damit verbundenen Probleme ist Milei mit einer Zustimmungsrate von fast 50 Prozent weiterhin populär. Von den jungen Argentiniern unterstützen knapp zwei Drittel den Präsidenten. Das Vertrauen der Wähler könnte sich jedoch als kurzlebig erweisen, wenn der angekündigte Wirtschaftsaufschwung nicht bald beginnt. Eines der interessantesten Projekte in dieser Hinsicht dürfte die Ausbeutung von Öl- und Gasreserven sein, welche dank moderner Fracking-Technologie relativ schnell wirtschaftlich rentabel werden könnte. In westlichen Medien wird Milei vorsorglich schon als „Klima-Leugner“ abgekanzelt. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass negative Schlagzeilen im linkslastigen britischen „Guardian“ die Pläne des Präsidenten ändern werden. 

Keine sozialistischen Experimente

Anders als in Europa hat man in Südamerika durchaus mitbekommen, in welchem Tempo die USA dank neuer Fördermethoden vom Energie-Importeur zum Energie-Exporteur wurden. Was Milei ebenfalls zugutekommen könnte, ist die wachsende Ablehnung sozialistischer Experimente in den südamerikanischen Nachbarstaaten. Der chilenische Präsident Gabriel Boric ist die lateinamerikanische Version eines woken Politikers und gerade dabei, das Land in die Rezession zu führen. Der Präsident von Peru, Pedro Castillo, wurde des Amtes enthoben, da er versucht hatte, eine Art Alleinherrschaft zu errichten. Und Brasiliens Präsident Lula da Silva kämpft mit Zustimmungswerten unter 40 Prozent.

Das politische Klima in der Region war vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr so reif für einen politischen Wechsel, und kaum jemand verkörpert diesen so wie Javier Milei. Auch wenn er gerne als libertärer Dogmatiker gesehen wird, zeigte er in den ersten Monaten  seiner Amtszeit durchaus ein Talent zum Pragmatismus.

Das zeigt sich nicht nur in der Innen-, sondern auch in der Außenpolitik: Während des Wahlkampfs hatte Milei den brasilianischen Präsidenten vehement für dessen linke Politik kritisiert und ankündigt, den Mercosur-Handelspakt zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay aufzukündigen.

Milei hatte auch eine weitgehende Annäherung an Israel versprochen, sich als massiv pro-amerikanisch präsentiert und sogar in den Raum gestellt, dass er die Beziehungen zu China abbrechen würde, da er „keine Geschäfte mit Kommunisten“ machen wolle. 

China? Doch nicht so übel

Nach der Wahl ist Mileis Welt nicht mehr schwarz-weiß, Kompromisse scheinen möglich. So tritt der Präsident etwa gegenüber Peking deutlich moderater auf – eine Notwendigkeit angesichts der engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern: Fast zehn Prozent aller argentinischen Exporte gehen nach China (insbesondere Soja), und chinesische Unternehmen sind stark in Argentiniens Bergbau und Infrastruktur engagiert.

Auch die Schärfe im Ton gegenüber Brasilien hat sich gemildert, und die neue Führung in Buenos Aires ist nun bemüht, die Beziehungen zum Nachbarn zu verbessern. Unterstützt wird auch Brasiliens Bestreben, ein Freihandelsabkommen zwischen Mercosur und der Europäischen Union abzuschließen.

Notwendige Kompromisse

Pragmatismus wird auch notwendig sein. Milei kann die wirtschaftlichen Reformen nur durchbringen, wenn er deren soziale Folgen im Auge behält. Es gilt als weithin anerkannt, dass Argentinien seine staatlichen Ausgaben reduzieren und private Investitionen im Land fördern muss. Allerdings sind Millionen von Bürgern auf Subventionen, nicht finanzierte Rentenpläne, Geldtransfers und stabile, wenn auch schlecht bezahlte, Regierungsjobs angewiesen. Milei muss also den Spagat zwischen ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten schaffen. Zu schnell durchgeführte Reformen und allzu massive Kürzungen von Sozialleistungen würden wohl zu Aufständen führen.

Argentinien hat eine lange Tradition des Straßenprotests, und der Einfluss der Peronisten auf die Gewerkschaften ist nach wie vor groß. Darüber hinaus macht auch die Anwesenheit von Cristina Fernández de Kirchner im Kongress Mileis Leben kompliziert. Die Ex-Präsidentin hat noch immer beträchtlichen Einfluss auf den Peronismus im Land. 

Es ist noch zu früh, um über die Präsidentschaft von Javier Milei zu urteilen; sowohl ein Erfolg als auch ein Scheitern sind zum jetzigen Zeitpunkt möglich.  Sicher ist nur, dass es für Argentinien und für Lateinamerika wünschenswert wäre, wenn die Region endlich ihr wirtschaftliches Potenzial entfalten könnte. Millionen Menschen hätten dann ein besseres Leben.

×

Conclusio

Inmitten einer schweren Wirtschaftskrise  erlebt Argentinien eine politische Wende mit Javier Milei. Der Ökonom versprach im Wahlkampf, den Staatsapparat radikal zu beschneiden und die Kräfte des Marktes wirken zu lassen. Trotz seiner Popularität hat Milei eine schwache parlamentarische Basis. Er ist gezwungen, mit Mitgliedern der Vorgängerregierung und lokalen Peronisten zu kooperieren. Seine ersten Maßnahmen zeigen bereits eine pragmatischere Herangehensweise. Extreme Vorschläge wie die Abschaffung der Zentralbank wurden aufgeschoben und das Reformpaket deutlich verkleinert. Argentinien steht vor enormen Herausforderungen, einschließlich hoher Inflation und einer immensen Staatsverschuldung. Mileis Erfolg hängt davon ab, ob er das Land wirtschaftlich stabilisieren kann, ohne soziale Unruhen zu provozieren.

Derzeit beliebt

Unser Newsletter