Russland nach dem Terror: Strategische Desinformation
Putin versucht, die Ukraine und den Westen für den IS-Terroranschlag verantwortlich zu machen. Mit der Propaganda will er auch vom eigenen Versagen ablenken.
Auf den Punkt gebracht
- Terror. Der Anschlag der Terrorgruppe Islamischer Staat in Krasnogorsk gehört zu den drei tödlichsten in der Geschichte der Russischen Föderation.
- Islam. Putin versucht, die 20 Millionen russischen Muslime ähnlich wie die Russisch-Orthodoxe Kirche politisch zu instrumentalisieren.
- Versagen. Seit den brutalen Kriegen in Tschetschenien und Syrien ist Moskau ein begehrtes Ziel von Dschihadisten, die Terrorgefahr wurde sträflich vernachlässigt.
- Propaganda. Die innenpolitischen Folgen des Anschlags sind begrenzt. Im Ausland ist Desinformation zur Spaltung der westlichen Bevölkerung Teil der Kriegsführung.
Der Anschlag vom 22. März 2024 vor den Toren Moskaus mit über 140 Toten und 380 Verletzten war einer der blutigsten Terroranschläge in der Geschichte der Russischen Föderation. Nur die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater während des Musicals „Nord-Ost“ von 2002 (130 Tote) und in Beslan im Jahr 2004 (331 Tote) sind in ihrer Dimension vergleichbar.
Wenige Stunden nach dem Angriff wurde auf allen offiziellen Kanälen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) das Bekennerschreiben vom Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISPK oder IS-K), einer Splittergruppe des IS, veröffentlicht. Obgleich führende internationale Terror- und Extremismusexperten die Handschrift des Islamischen Staates zweifelsfrei erkannten, versuchte Moskau unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlags, die islamistischen Hintergründe zu leugnen, der Ukraine die Hauptschuld zuzuschieben und zumindest eine Teilschuld dem Westen, und insbesondere den USA, anzulasten. Auch wenn es sich dabei eindeutig um fake news aus der weltweiten russischen Propagandamaschinerie handelt, stellt sich die Frage, warum der ISPK Russland überhaupt angegriffen hat.
Der Islam und der Kreml
Russland verfügt seit Mitte des 16. Jahrhunderts über große autochthone islamische Bevölkerungsgruppen entlang der Wolga. Im 19. Jahrhundert wuchs die muslimische Bevölkerung Russlands durch die koloniale Eroberung weiter Gebiete des Nordkaukasus erheblich an. Heute leben rund 20 Millionen Muslime, Tendenz steigend, in zwei ethnisch unterschiedlichen Gemeinschaften: die eine an der Wolga in den Regionen Tatarstan und Baschkortostan, und die andere im Nordkaukasus.
Wladimir Putin betont regelmäßig die Bedeutung des interreligiösen Dialogs in Russland. Dabei versucht der Kreml die muslimische Glaubensgemeinschaft Russlands ähnlich wie auch die Russisch-Orthodoxe Kirche für seine ideologischen Zwecke politisch zu instrumentalisieren – insbesondere für die Propagierung „traditioneller Werte“ –, um auf diese Weise die Kontrolle und die Deutungshoheit über die Diskurse zu erlangen und die Stabilität des Regimes zu wahren.
Die Anführer der Hamas halten sich auf Einladung Putins regelmäßig in Moskau auf.
International sucht Moskau die Nähe zu ausgewählten islamischen Staaten und Organisationen. So gilt beispielsweise Ramsan Kadyrow seit vielen Jahren als zentraler Verbindungsmann Wladimir Putins zu den religiös-politisch einflussreichen arabischen Golfstaaten. Der überraschende eintägige Blitzbesuch des russischen Staatschefs Ende Dezember 2023 bei den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien unterstreicht deren wachsende Bedeutung für Russland. Allerdings wird das Verhältnis Russlands zur Golfregion dadurch getrübt, dass einzelne arabische Staaten am Persischen Golf mutmaßlich radikale wahhabitische Bewegungen in Russland unterstützen. Auf der anderen Seite überschattet die Nähe Moskaus zu Teheran die Beziehung.
Im Nahostkonflikt versucht Moskau, sich als ein für alle Seiten akzeptabler Vermittler zu positionieren. Nach dem jüngsten Terrorangriff der Hamas kühlten die guten Beziehungen zu Israel angesichts der wahrscheinlichen russischen Unterstützung der Hamas bei den Vorbereitungen des Überfalls jedoch rapide ab. Während die Muslimbruderschaft in Russland seit 2003 als „terroristische Vereinigung“ verboten ist, unterhält Moskau seine kooperative Beziehung mit der Hamas aufrecht. Die Anführer der Terrororganisation halten sich auf Einladung Putins regelmäßig in Moskau auf.
Am Anfang war Tschetschenien
Bereits seit den 1990er Jahren stand die Russische Föderation vor allem aufgrund der brutalen Kriege in Tschetschenien im Fokus dschihadistischer Organisationen. Und ab Mitte der 2010er Jahre wurde Russland zum erklärten Gegner des Islamischen Staates (IS), weil Moskau im Syrienkrieg den syrischen Diktator Baschar al-Assad unterstützte.
Kurz nach der Gründung des IS im Frühjahr 2013 verließen tausende islamistische Extremisten Russland sowie die Staaten Zentralasiens, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan, und schlossen sich der Terrormiliz an. Damit wurde Russisch unmittelbar nach Arabisch zur zweitwichtigsten Sprache des IS. Noch Anfang 2017 sah der russische Staatschef in diesen Extremisten eine „Brutstätte des Terrorismus auf dem Territorium Syriens“ und eine enorme Gefahr für Russland.
Die längste Zeit waren sich die russischen Sicherheitsbehörden der islamistischen Bedrohung bewusst, fokussierten sich darauf, und konnten so der Gefahr adäquat und weitgehend erfolgreich begegnen. Dabei kooperierte Russland eng mit den Sicherheitsbehörden zentralasiatischer Staaten.
Zahlen & Fakten
Der Anschlag in Krasnogorsk
Am Abend des 22. März 2024, kurz vor dem geplanten Beginn eines Rockkonzerts, stürmten schwer bewaffnete Terroristen des IS-K in die Veranstaltungshalle Crocus City Hall in Krasnogorsk, einer Vorstadt im Nordwesten Moskaus, und feuerten auf die Besucher. Mindestens 144 Personen wurden getötet, ca. 360 verletzt.
Der IS-K ist der afghanische Ableger der Terrororganisation Islamischer Staat. Das „K“ in der Bezeichnung geht auf die historische Khorasan-Provinz aus dem siebten Jahrhundert zurück. Der IS bekannte sich nur wenige Stunden nach dem Anschlag über den Telegram-Kanal seiner Nachrichtenagentur Amaq zu der Tat und veröffentlichte ein Video des Terroranschlags, das von einer Bodycam eines der Täter aufgenommen wurde. Führende Terrorismusexperten wie Peter Neumann vom King’s College London bestätigen die Authentizität der Bekenntnisse.
Dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB zufolge wurden elf Personen festgenommen, darunter alle vier direkt an dem Terroranschlag beteiligten Täter. Bald darauf wurden Videos der offensichtlich gefolterten Attentäter auf Social Media verbreitet. Die USA und Großbritannien hatten bereits am 7. März vor Terroranschlägen auf Konzerte gewarnt. Der New York Times zufolge enthielt die Warnung sogar den richtigen Ort, wenn auch keinen konkreten Zeitpunkt. Die Warnungen waren von Putin jedoch öffentlich als „Erpressung“ zurückgewiesen worden.
Doch seit etwa 2018 verlagerte sich der Fokus russischer Sicherheitsbehörden auf Wunsch des Kremls schrittweise auf die Bekämpfung oppositioneller Aktivitäten im Inland. Was eindeutig dem politischen Willen Putins und nicht einer geänderten Bedrohungslage geschuldet war. Ab diesem Zeitpunkt verschiebt sich auch der Fokus der Kooperationen mit den autoritär geführten zentralasiatischen Staaten rapide in Richtung der Abwehr von Pseudobedrohungen wie den so genannten Farbrevolutionen, die in der Ukraine (Orange Revolution und Euromaidan), Georgien (Rosenrevolution) und Kirgisistan (Tulpenrevolution) erfolgreich waren.
Die dschihadistische Gefahr
Obwohl die dschihadistische Bedrohung seit Beginn des russischen Militäreinsatzes in Syrien im September 2015 zugenommen hatte, verschloss Russlands Führung die Augen vor dieser Gefahr. Hier sei insbesondere an den durch eine Explosion an Bord ausgelösten Absturz der Chartermaschine der russischen Fluggesellschaft Kogalymavia über der Sinai-Halbinsel mit 224 Opfern am 31. Oktober 2015 erinnert. Und obschon sich damals der IS umgehend offiziell zu diesem Anschlag bekannte und westliche Sicherheitsbehörden Russland Unterstützung anboten, bezeichnete Kremlsprecher Dmitri Peskow insbesondere die Informationen britischer sowie US-amerikanischer Sicherheitsdienste über eine Explosion an Bord als „Spekulationen“ und wies jeden Zusammenhang zwischen dem Terroranschlag und dem Einsatz russischer Streitkräfte in Syrien zurück.
Gerade in den letzten Monaten führte das syrische Militär mit starker Unterstützung russischer Streitkräfte Angriffe auf Rückzugsorte der Milizen des IS durch. Damit rückte Russland erneut in den Fokus islamistischer Milizen. Auch vergessen die dschihadistischen Organisationen nicht, dass die russische Luftwaffe in den vergangenen Jahren zahlreiche zivile Ziele in Syrien willkürlich zerstört hatte. Und natürlich sind es auch die Verflechtungen Russlands mit dem Iran sowie die Annäherung des russischen Regimes an die Taliban, den Erzfeind des Islamischen Staates, die Moskau zu einem heißen Ziel machen.
All diese Zusammenhänge versucht die russische Führung so weit wie möglich zu leugnen. Nach dem Terroranschlag vom 22. März erkannte Wladimir Putin die Anhänger des IS zwar als unmittelbare Ausführer des Terroranschlages an, gleichzeitig betonte er jedoch, dass die eigentlichen Drahtzieher in der Ukraine säßen, deutete eine Verwicklung des Westens an und drohte mit der Bestrafung aller Verantwortlichen. Unterdessen sprachen Gefolgsleute des IS erneut Drohungen gegen Russland und direkt gegen Wladimir Putin aus. Inwieweit diese Drohungen vom Kreml ernst genommen werden, bleibt abzuwarten.
Potemkin’sche Sicherheit
Angesichts der Terroranschläge seit Ende der 1990er Jahre erwecken die Kontrollen in den Großstädten, insbesondere in der Hauptstadt Moskau, den Anschein allgegenwärtiger Sicherheit. Alle öffentlichen Einrichtungen und selbst größere Einkaufszentren werden rund um die Uhr zumindest von privaten Sicherheitsdiensten bewacht. Doch der Schein trügt.
Das erneute Scheitern des Sicherheitsversprechens wird für Wladimir Putin aller Voraussicht nach folgenlos bleiben.
Denn oft bleiben die Sicherheitsvorkehrungen oberflächlich. So kommt nicht selten vor, dass die Metalldetektoren an den Eingängen von öffentlichen Einrichtungen und sogar Regierungsgebäuden nicht oder nur eingeschränkt funktionieren, die Fluchtwege versperrt sind und die Sicherheitskontrollen der Besucher nicht von geschultem Sicherheitspersonal durchgeführt werden. Trotz klarer gesetzlicher Regelungen werden die polizeilichen Kontrollen äußerst nachlässig gehandhabt. Insofern ist auch nach diesem Terroranschlag nicht mit einer grundlegenden Verhaltensänderung zu rechnen.
Die russischen Sicherheitsbehörden haben nach dem Prigoschin-Aufstand im Juni 2023 zum wiederholten Male innerhalb nur eines Jahres versagt und ihre mangelnde Professionalität eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Damit hat der Kreml das Sicherheitsversprechen, das er der russischen Bevölkerung im Gegenzug für den weitgehenden Verzicht auf politische Mitbestimmung gegeben hat, erneut gebrochen. Allerdings wird dieses Scheitern für Wladimir Putin aller Voraussicht nach folgenlos bleiben.
Putin versagt und gewinnt
Wladimir Putin konnte bislang jeden Terroranschlag zu seinen Gunsten umdeuten, politisch instrumentalisieren und durch patriotische Mobilisierung vom Versagen der Sicherheitsbehörden ablenken.
So dienten beispielsweise die Hochhaus-Bombenanschläge 1999 – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vom russischen Inlandsgeheimdienst inszeniert – als wesentliche Rechtfertigung für den Zweiten Tschetschenienkrieg und boten die Grundlage für den ersten Wahlerfolg Putins. Die Terroranschläge der 2000er Jahre führten zu einer Entmachtung der Regionen, einer weitgehenden Umstrukturierung und Zentralisierung des politischen Systems Russlands und damit zur Etablierung der Putin’schen Machtvertikale.
Eine derart dramatische Wirkung ist derzeit allerdings wohl kaum zu erwarten. Höchstens dürfte es bei politisch begrenzt wirksamen, jedoch hochgradig symbolträchtigen Gesten bleiben, wie der Wiedereinführung der Todesstrafe.
Schließlich ist das politische System seit langem zentralisiert. Die Kompetenzen der Sicherheitsdienste sind immens ausgeweitet und faktisch jedweder unabhängigen Kontrolle entzogen. Die Grundrechte werden auf – bestenfalls – zweifelhafter rechtlicher Grundlage widerstandslos eingeschränkt und die Repressionswalze dreht sich immer schneller.
Conclusio
Der Terroranschlag des IS vom 22. März 2024 ist einer der blutigsten Terroranschläge in der Geschichte der Russischen Föderation. Bereits seit Beginn des Tschetschenienkrieges stand Russland im Visier dschihadistischer Organisationen. Seit Beginn des russischen Militäreinsatzes in Syrien im September 2015 hat sich die Bedrohung durch den IS verschärft. Auf Wunsch des Kremls liegt der Fokus russischer Sicherheitsbehörden aber auf der Bekämpfung oppositioneller Aktivitäten im Inland. Mit patriotischer Mobilisierung und Schuldzuweisung an die Ukraine will Wladimir Putin vom Versagen der Sicherheitsbehörden ablenken. Die innenpolitischen Folgen der Anschläge dürften sich jedoch auf symbolische Maßnahmen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe beschränken.