Ein Missverständnis

Aufschwung, Abschwung, Boom, Bust, BIP und Wachstum – für wünschenswerte Ziele ist in der Mainstream-Ökonomik kaum Platz, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Schleicher.

Eine Achterbahn bei der Abwärtsfahrt auf dem Münchner Oktoberfest 2023. Das Bild illustriert einen Beitrag über die Wirtschaftswissenschaften, die Ökonomik, und ihren Zugang zu Umwelt, Klima und Natur vor dem Hintergrund des Green Deals der EU und insbesondere des Renaturierungsgesetzes.
Auf dem Oktoberfest in München 2023. © Getty Images

Die Kategorien und Konzepte der Ökonomik und der Wirtschaftswissenschaften machen sie blind gegenüber möglichen Risiken und Schocks vom vermeintlichen Außen, sagt Stefan Schleicher, selbst Ökonom: „Wir tun so, als hätten wir das Problem verstanden, wir haben es aber nicht ausreichend verstanden. Vieles von dem, was Ökonomen zum Klima sagen, ist obsolet.“

Der Podcast über Ökonomik und Krisen

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Wir haben die große Versuchung, immer mit Zahlen aufzuwarten. Aber das trifft das Problem nicht.

Stefan Schleicher

Beleg des Missverständnisses ist das BIP: Das Bruttoinlandsprodukt als Summe der Wertschöpfung durch Produkte und Dienstleistungen ist indifferent gegenüber der Art und Weise, wie das Wachstum der Ökonomie zustande kommt, das aus diesem BIP berechnet wird: „Das ist eine Verkürzung von der Realität. So können wir nicht darstellen, ob es uns besser oder schlechter geht.“

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind das Modell, an dem sich Erwartungen von Wachstum und Wohlstandssteigerung orientieren: „Wir haben die große Versuchung, immer mit Zahlen aufzuwarten. Aber das trifft das Problem nicht.“

Zum einen werde die Reduktion auf Zahlen der Ungleichmäßigkeit der Wohlstandsgewinne nicht gerecht: „Die unteren Einkommensgruppen werden von allen Krisen am stärksten getroffen, das geht aber wenn man nur auf das BIP schaut, unter.“

Ebensowenig berücksichtigt werden die Folgen, die das wirtschaftliche Tun zeitigt. Die – oft dauerhaften – Schäden an Natur, Umwelt und Ressourcen sind im BIP nicht eingepreist. „Das war nach dem Zweiten Weltkrieg kein Problem, denn da war jeder Schritt ein Schritt zu mehr Wohlstand.“ Mit den Ölpreisschocks der 1970er Jahren wurden die Grenzen dieser Betrachtung sichtbar, doch es blieb bei den Scheuklappen, wie Stefan Schleicher begrenzte Sichtweise seiner Profession beschreibt. Bis heute gäbe es nur wenige Ansätze eines Umdenkens: „Aufgrund des Krieges in der Ukraine werden die Militärbudgets extrem erhöht. Damit wird das BIP angehoben, aber das sind natürlich regrettables.“

Von der Ökonomik zur Politik

Sofern externe Folgen nicht abgebildet werden können, habe die Ökonomik auch die Politik schlecht informiert, indem sie nicht dazu beigetragen habe, einen Konsens zu unterstützen: „Bei der Klimapolitik ist uns das nicht gelungen, und da würde ich meine Profession sehr belasten“, so Schleicher.

Sein Beispiel ist das Renaturierungsgesetz: „Nur wenige die sich an der Diskussion beteiligt haben haben den zugrundeliegenden Text gelesen. Viele der Einwände, die in Österreich genannt wurden, entsprechen nicht dem letzten Beschluss des Europäischen Parlaments. Es steht nicht drinnen, dass die Bauern Schmetterlinge zählen müssen. Es ist nicht wahr, dass die Versorgung mit Agrarprodukten durch diese Verordnung gefährdet ist.“

Schleicher sieht einen Grund für die Zurückhaltung der Ökonomen darin, dass der Fokus der Wirtschaftswissenschaften nicht auf konkreten Ziele läge. „Es wird nie gefragt, wofür wir denn die Energie brauchen. Dann kämen wir darauf, dass wir ungefähr die Hälfte der Energie brauchen, etwa um Gebäude angenehm zu temperieren. Dass wir ungefähr nur ein Viertel der Energie brauchen, um unsere Fahrzeuge zu bewegen.“ So konnte die Ökonomik auch nichts dazu beitragen, eine sachliche Diskussion zu ermöglichen. Grundsätzlich gelte es jedoch, der Politik die „Aufgabe zu stellen, zielorientierte Innovationen argumentationsfähig zu machen.“

Über Stefan Schleicher

Stefan Schleicher während einer Podiumsdiskussion des Pragmaticus. Das Bild illustriert einen Beitrag zu einem Podcast mit Stefan Schleicher, in dem er über die Grenzen der Konzepte der Wirtschaftswissenschaften und Ökonomik spricht und die Notwendigkeit der Differenzierung.
Stefan Schleicher bei dem Pragmaticus Experten-Forum zum Thema Wissenschaftsfreiheit im April 2024. © Christian Jobst

Stefan Schleicher ist Wirtschaftswissenschaftler und forscht am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Universität Graz sowie am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Gebäudesektor, Energieeffizienz und Emissionshandel. Er war Teilnehmer einer Podiumsdiskussion des Pragmaticus zum Thema Wissenschaftsfreiheit.

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