Im Land der Reblaus

Österreich ist seit jeher eine Nation der Trinker. Kaum ein wichtiges historisches Ereignis konnte ohne Alkohol stattfinden - von der Reblaus bis zum lieben Augustin.

Illustration für Land der Reblaus: Ein Doppler, der ausgeleert wird.
Haben die Österreicher dem Trinken abgeschworen? © Benedetto Cristofani
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Auf den Punkt gebracht

  • Erinnerung. Der Dopplerwein wurde zum Symbol der Nachkriegszeit und zum Mythos nationaler Geselligkeit.
  • Kontinuität. Vom „lieben Augustin“ bis zum Reblauslied – Alkohol prägt Österreichs kollektives Gedächtnis seit Jahrhunderten.
  • Klasse. Trinken war lange Privileg der Wohlhabenden, erst die Industrialisierung machte Alkohol zum Massenprodukt.
  • Gegenwart. Heute zählt Qualität vor Quantität – und der Rausch hat der Kontrolle Platz gemacht.

Österreich erinnert sich gerne – und auch heuer wieder – an die Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur im Jahr 1945 und an das Ende der Besatzungszeit zehn Jahre später. Im kollektiven Gedächtnis ist das anekdotenhaft sehr eng mit dem Alkohol verbunden: Der „Doppler“ – also die Doppelliterflasche mit meist recht saurem Wein, im Wiener Jargon „Brünnerstraßler“ genannt, weil das Hauptanbaugebiet im Weinviertel in Richtung Brünn liegt – gehört zur österreichischen Nachkriegsfolklore.

Trinkfestigkeit sei gefragt gewesen, um mit der Besatzungsmacht zurechtzukommen und eine amikale Basis zu finden, erzählt man sich seit nunmehr sieben Jahrzehnten. Beim Heurigen sollen die Staatsvertragsbedingungen ausgehandelt und finalisiert worden sein. Berühmt ist Hanns Erich Köhlers Karikatur, die Figl und Raab inmitten russischer Polit- und Armeeprominenz zeigt, mit der Bildunterschrift: „Und jetzt, Raab – jetzt noch d’ Reblaus, dann sans waach!“

Weinbeißer

Das Wienerlied, das Bundeskanzler Raab der Karikatur zufolge auf der Zither anstimmen sollte, stammt aus der NS-Zeit. Getextet wurde es von Ernst Marischka und vertont von Karl Föderl. Der Karikaturist Köhler selber hatte seine Karriere als NS-Propaganda-Grafiker begonnen. Schon 1923 brüstete er sich damit, dass sein Hitler-Porträt das erste Führerbild in einer sudetendeutschen Schule war. Auch Ernst Marischkas Karriere hatte sich recht ungebrochen zwischen allen Systemen hindurch bewegt.

Erstmals gesungen wurde das Reblaus-Lied von Hans Moser 1940 im NS-Film „Sieben Jahre Pech“. Moser spielt darin den kauzigen Tierarzt Dr. Teisinger, der darüber spekuliert, dass er „im früheren Leben eine Reblaus“ gewesen sein müsse. „Ja, sonst wär die Sehnsucht nicht so groß nach einem Wein. Drum tu den Wein ich auch nicht trinken, sondern beißen.“

Das Lied wurde zu einem der Kultlieder der Nachkriegszeit und zum Song der Sozialpartnerschaft: „I hob den Rotn grod so gern als wie den Weißn“, geht der Reim weiter. In der Neuverfilmung des Erfolgsfilms „Der Kongress tanzt“ singt Hans Moser es in der Rolle des Schöberl noch einmal. Und auch Peter Alexander, Wolfgang Ambros und zahlreiche andere Austro-Stars haben das Lied auf Platte aufgenommen.

Alles ist hin

Nach der Not der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, als der Bier- und Weinkonsum auf weniger als die Hälfte der Vorkriegszeit eingebrochen war, tranken die Österreicher danach umso mehr – sowohl auf dem Wiener Heldenplatz bei der großen Hitler-Rede als auch nach der NS-Diktatur und den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Unübertroffen hat das Helmut Qualtinger als Herr Karl im Kommentar zu Hitlers Rede am 15. März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz zum Ausdruck gebracht: „Es war ein riesiger Heuriger. Aber feierlich.“

Schwere Zeiten wurden schon immer gerne mit Alkohol überbrückt, auch wenn es in solchen Zeiten in Wahrheit nicht viel Alkohol zu trinken gab. Der „liebe Augustin“, der mit seinem Rausch in der Pestgrube dem Tod ein Schnippchen schlägt, ist zum Inbegriff des Wienerischen geworden. „O du lieber Augustin, alles ist hin, ’s Geld ist hin, ’s Mensch (gemeint ist die Freundin) ist hin, o du lieber Augustin, alles ist hin!“

Der reale Augustin soll beim letzten großen Pestausbruch im Jahr 1679 von den Totengräbern für tot gehalten und in eine Grube geworfen worden sein. Er und sein Lied sind zu einer Wander-Legende der österreichischen und europäischen Erinnerungskultur geworden. In Wien bekam er mehrere Denkmäler. Seine Geschichte wird auch für andere Städte erzählt und sein Lied in zahlreichen Ländern gesungen.

Wein mit Frostschutz

Man könnte noch mehrere solche Anlässe und runde Alkohol-Gedenktage finden. Vor 664 Jahren hatte Herzog Rudolf der Stifter mit der Einführung des Ungelds, der ersten Alkoholsteuer, beim Volk beinahe einen allgemeinen Aufstand ausgelöst.

Auch die schon erwähnte Reblaus hätte heuer einen mehr oder weniger runden Geburtstag: Ab 1865 tauchte der aus Amerika eingeschleppte Schädling in Österreich erstmals auf und brachte ab 1875 den österreichischen Weinbau beinahe zum Erliegen. Erst die Umstellung der Weinkulturen auf resistente amerikanische Direktträger brachte die Rettung. Und vor genau 40 Jahren erschütterte der Weinskandal das Land, der durch die unzulässige, aber nicht gesundheitsschädliche Beimengung von Diethylenglykol, einem für die Autotanks bestimmten, süß schmeckenden Frostschutzmittel, ausgelöst worden war. Was man damals nicht wissen konnte: Im Endeffekt hat der Skandal den heimischen Weinbau nicht zerstört, sondern zu einer Qualitätsoffensive motiviert und damit den Absatz erhöht.

Mein Rausch, jahrein, jahraus

Alkohol war früher ein teures Getränk, allen Mythen vom armen Musikanten Augustin und der Operetten- und Wienerlied-Romantik zum Trotz. Man hat die Texte und Melodien im Ohr: „Mein Rausch hab’ ich jahraus, jahrein, es wird doch heut ka’ Ausnahme sein“, und: „Wenn der Komet kommt, ist alles wurst, nur net der Durst.“ In Wirklichkeit kultivierten nicht die Armen den Suff, sondern die Mittel- und Oberschichten: „Trinke, Liebchen, trinke schnell, trinken macht die Augen hell!“

Es waren der Adel, das gehobene Bürgertum und die Studenten, deren Angehörige die Trinkkultur forcierten. Zuerst wurde hauptsächlich Wein konsumiert. Im 19. Jahrhundert wurde dann das Bier immer mehr zum neuen Modegetränk – auf den Studentenkommersen, aber auch bei den Mittel- und Oberschichten und vor allem in den großen Bierhallen, die von den neuen Großbrauereien eingerichtet wurden.

Man musste sich den Alkohol aber leisten können. Ein Massenkonsumgut wurden alkoholische Getränke erst mit der industriellen Revolution, durch die großen technischen Fortschritte beim Brauen und in der Weinkultur sowie die neuen Grundstoffe beim Schnapsbrennen (neben Trebern und Getreide kamen nun auch Kartoffeln, Mais und Rübenmelasse zum Einsatz).

Raus aus Manchester

Österreich zählt bis heute weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol, seit einigen Jahren ist der Pro-Kopf-Verbrauch allerdings leicht rückläufig – aus mehreren Gründen: Strenge Kontrollen im Straßenverkehr, die Vielfalt der Angebote an neuen Softdrinks und auch die muslimische Zuwanderung dürften eine Rolle spielen.

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Zahlen & Fakten

Auf ein Achterl – oder mehrere

Über zwei Drittel des Alkohols in Österreich werden von Menschen mit problematischem Trinkverhalten konsumiert.

Schichtspezifisch haben sich die Unterschiede eingeebnet. Früher unterschied man drei soziale Funktionen des Alkoholkonsums: instrumentelles Trinken, narkotisches Trinken und soziales Trinken. Als Durstlöscher diente Alkohol vor allem in Städten, wo das Trinkwasser häufig so verdorben war, dass es gesünder war, Bier oder Wein zu trinken. Dergleichen spielt durch die Verbesserung der städtischen Trinkwasserversorgung kaum mehr eine Rolle.

Narkotisches Trinken galt als der sprichwörtlich schnellste Weg, „um aus Manchester hinauszukommen“, also dem Elend der Armut und der Frühindustrialisierung zu entfliehen. Diese Funktion war beileibe nicht so häufig, wie uns Berichte aus jener Zeit vormachen wollen, weil der Alkohol – wie oben beschrieben – viel zu teuer war.

Soziales Trinken als Ausdruck von Männlichkeit, als Teil des Freizeitverhaltens, als Träger der Festkultur und des Vereinslebens spielt immer noch eine große Rolle. Doch der damit verbundene Konsum ist weniger exzessiv geworden.

Respekt für die Mostschädel

Österreich ist ein Weinland, aber kein typisches. Es ist auch ein Bierland, aber auch da kein typisches. Ein Branntweinland ist es definitiv nicht. Und es ist auch kein Birnen- und Apfelmostland, wiewohl das niederösterreichische Viertel ober dem Wienerwald immer noch als „Mostviertel“ figuriert und obwohl die Oberösterreicher scherzhaft als Mostschädel bezeichnet werden: „Mostschädel wer’n ma g’nennt, Respekt hat, wer uns kennt …“, lautet der Text einer inoffiziellen Landeshymne. Aber der Apfel- und Birnenmost ist trotz aller Verbesserung, die seine frühere Bezeichnung als „Landessäure“ recht anachronistisch wirken lässt, überall auf dem Rückzug.

Österreich wird immer mehr zu einem Land, wo auch beim Alkohol nicht die Menge, sondern die Qualität im Vordergrund steht.

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Conclusio


Gewachsen. Österreichs hohe Trinkkultur ist historisch gewachsen und tief im gesellschaftlichen Leben verankert. Kein Wunder, dass der Pro-Kopf-Konsum deutlich über
internationalen Durchschnittswerten liegt.


Gepanscht. Alkohol war und ist Teil politischer, kultureller und sozialer Rituale: von der „Reblaus“ über den „lieben Augustin“ bis hin zu Figl und dem Staatsvertrag. 1985 erschütterte der Weinskandal das Land und führte zu einer Qualitätsoffensive.


Getrunken. In Österreich wird immer noch gerne getrunken. Es ist ein Weinland, genauso wie es ein Bierland ist; und ein Mostviertel hat es auch. Aber immerhin gibt es einen neuen Trend zu Qualität und nicht nur Quantität.

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