Im Rausch der Nüchternheit
Abstinenz ist die neue Droge für alle, die ewig jung bleiben (oder vielleicht gar nicht erwachsen werden) wollen. Das Problem: Diese Leute sind in nüchternem Zustand kaum zu ertragen.

Auf den Punkt gebracht
- Weinkultur. Der Wein stand für Lebensart und Gesprächskultur – doch sein Konsum sinkt deutlich.
- Gesundheitsmanie. Eine neue Fixierung auf „Gesundheit“ verdrängt den maßvollen Genuss.
- Gesellschaftswandel. Abstinenz wird zum Statussymbol einer ewig jungen, kontrollierten Gesellschaft.
- Kulturverlust. Mit dem Rückzug des Weins schwindet ein soziales Ritual, das Gemeinschaft stiftete.
„In vino veritas – im Wein liegt Wahrheit“, so lautet eines der bekanntesten lateinischen Sprichwörter. Es ist die Adaption einer Weisheit aus der griechischen Antike, in der Tacitus beschrieb, dass sich die Germanen gerne bei einem Gelage im Zustand der Trunkenheit berieten, da die Seele in einer solchen Verfassung nicht lügen könne und die Gedanken des Herzens dann offenbar seien.
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Schon hier werden viele hellhörig. Ob das so eine gute Idee ist? In Zeiten, in denen Triggerwarnungen selbst vor Erwachsenenfilmen oder akademischen Vorträgen zu erfolgen haben und die Furcht vor Mikroaggressionen grassiert: Da soll man unbeschwert offenbaren, was einem auf dem Herzen liegt? Selbstkontrolle bis zur Selbstverleugnung ist das Gebot der Stunde – und das schließt die Domestizierung von alkoholischem Genuss und seinen Effekten ebenfalls mit ein.
Gescheiterte Prohibition
Dass dabei neben Alkoholika wie Schnaps oder Bier – beides Getränke, denen seit jeher ein eher proletarisches Image anhaftet – nun sukzessive immer mehr auch das Weintrinken mit einem sozialkulturellen Bann belegt wird, ist indes schon bemerkenswert. Denn die Weinkennerschaft galt lange Zeit als Paradedisziplin ausgewiesener Gourmets. Das Weintrinken stellte einen über die reine Flüssigkeitsaufnahme hinausgehenden symbolischen Akt dar, in dem sich die bodenständige landwirtschaftliche Tätigkeit des Weinanbaus und seiner Kelterung bis hin zu seinem Genuss und dem elaborierten Gespräch darüber zu einer eigenen Kulturtechnik verbanden. So wurden Land und Leute unterschiedlichster Regionen und gesellschaftlicher Schichten miteinander in eine besondere Beziehung gesetzt.
Nun kann man darauf hinweisen, dass es schon immer Kulturen und Epochen in der Menschheitsgeschichte gab, die dem Alkoholgenuss und somit auch dem Wein ablehnend gegenüberstanden. Die letztlich gescheiterte Prohibition in den USA von 1920 bis 1933 ist so ein Beispiel. Die Abstinenzlerbewegung im nordisch-protestantischen Teil Europas wäre noch zu nennen oder die sozialistischen Bestrebungen, die Arbeiterklasse produktiv und nüchtern zu halten, wie etwa in der DDR. Dort hatte der große Vorsitzende Walter Ulbricht den Versuch unternommen, Eckkneipen in Milchbars umzuwandeln – allerdings vergeblich.
An seinem Ende wies der Arbeiter-und-Bauern-Staat den weltweit höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol aus. Auch das Alkoholverbot in weiten – aber keineswegs in allen – Teilen des islamischen Kulturkreises reiht sich hier ein und hat sicher auch in Österreich und Deutschland, wo der Anteil der muslimischen Bevölkerung wächst, einen Effekt auf die Genusskultur.
Was wird aus den Sommeliers?
Dennoch stellten diese Fälle immer Ausnahmen dar, begründeten sich in ganz spezifischen weltanschaulichen Konstrukten und hielten die Mehrheitsgesellschaft nicht davon ab, eine Weinkultur zu pflegen und zu entwickeln. Es wurde diesbezüglich ja sogar ein eigener Beruf begründet: der Sommelier, ein ausgewiesener Experte, ein hochqualifizierter Weinkenner und Weinlogistiker, der die edlen Tropfen systematisch bewerten und vertrauensvolle Empfehlungen auszusprechen vermag. Die Önologie wiederum hat sich als Wissenschaft vom Wein sogar universitär ausdifferenziert und akademisiert.
Doch wir beobachten eine Erschütterung in der Weinkultur – und diese findet ihre Ursache nicht etwa in qualitativen Mängeln des Produkts, etwa durch Panscherei oder schlechte Ernten. Es lässt sich auch nicht allein mit alkoholischen Alternativen wie Alkopops erklären, dass der Pro-Kopf-Konsum von Wein in Österreich im Zeitraum von 2010/11 bis 2023/24 von 30,3 Litern auf 25,9 Liter absank und in Deutschland zwischen 2016 und 2023 von 21,1 Litern auf 19 Liter. Insgesamt ist der Alkoholkonsum in beiden Ländern rückläufig.
Krankhaft gesund
Es wird kein großes Geheimnis gelüftet, wenn man diesen Rückgang zunächst einmal mit einer neuen Art des Gesundheitsbewusstseins erklärt. An dieser Stelle soll explizit von einer „neuen Art“ und nicht von einem „gestiegenen“ Gesundheitsbewusstsein die Rede sein. Denn ob die zeitgeistige Manie, sich allem und jedem unter strenger Berücksichtigung von naturwissenschaftlich-medizinischen Parametern zu nähern, wirklich zu einem validen Anstieg von gesunder Lebensqualität führt, kann man aus sozialkultureller Perspektive durchaus diskutieren.
Entstanden ist dabei etwa das Krankheitsbild der Orthorexia nervosa – also einer übertriebenen, krankhaften Beschäftigung mit gesundheitsfördernder Lebensweise. Außerdem erleben wir eine Zunahme psychischer Erkrankungen und den Verlust von sozialem Zusammenhalt in der Gesellschaft. Beides wird befeuert von der Erosion traditioneller Kulturpraktiken. Und zu diesen Kulturpraktiken gehörte beispielsweise eben auch der gelegentliche Konsum von Alkoholika, mitsamt dem Weintrinken und einem gepflegten Rausch.
Doch anstatt in der Tradition von Platons (bedauerlicherweise nicht mehr allzu) berühmtem Gastmahl und Symposium eine gemeinsame Weintrinkkultur auf höchstem Niveau zu hegen, gibt es neuerdings landauf, landab Veranstaltungen, in denen der Genuss alkoholfreier Getränke gefeiert wird. Als „neue Trinkkultur für Erwachsene“ wird bis zum Haubenlokal hinauf beworben, was einst mit einem eher despektierlichen Unterton als „Frauen- und Kindergetränke“ galt.
Ein Roadtrip mit dem Serienmörder
Das ist ein starker Kontrast zu den selbstbewussten Frauen des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich explizit der Teilhabe am Alkoholgenuss bemächtigen wollten. Die Journalistin Sandy Fawkes publizierte dazu seinerzeit ein Buch mit dem Titel Ernährungsgrundlagen für den leidenschaftlichen Trinker, in dem sie berichtete, wie sie sich mit Rücksicht auf ein allgemeines gesundheitliches Wohlbefinden durch aufregende und inspirierende alkoholgeschwängerte Tage und Nächte in diversen Bars manövrierte.
Die Lebensgeschichte von Fawkes ist Wasser auf die Mühlen der neuen Abstinenzler (beziehungsweise sind es ja doch ganz oft eben Abstinenzlerinnen). Zu Fawkes’ Biografie gehört nämlich auch, dass sie einige Tage lang einen wilden Roadtrip mit dem – was sie nicht wusste – Serienmörder Paul Knowles, „Casanova Killer“ genannt, unternahm. Fawkes kam unbeschadet wieder nach Hause und hatte im Anschluss aufregende Erlebnisse zu erzählen. Doch es sind gerade solche Eskapaden mit Grenzerfahrung, die heutzutage mit größter Skepsis gesehen werden und auf Unverständnis stoßen. Unter den Neoviktorianern gilt nur der Rausch der radikalen Nüchternheit als akzeptabel, modern ästhetisiert, in allen Farben des Regenbogens schimmernd, aber dennoch blass.
Forever young und immer nüchtern
Dass auch Jugendliche heutzutage weniger trinken und eine längere Phase ihres Lebens nüchtern bleiben, mag man in der Tat als Erfolg gesundheitlicher Aufklärung sehen. Doch auch hier sollte man genauer hinschauen. Denn es verwischt sich immer mehr, worin denn eigentlich die Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der anderen bestehen. So fordern manche gesellschaftlichen Milieus, auch Kinder und Jugendliche sollten bereits an politischen Wahlen teilnehmen, von einer immer weiteren Absenkung des Wahlalters ist die Rede.
Zahlen & Fakten
Doch solche Projekte beweisen nicht, dass man Kindern und Jugendlichen mehr zutraut, sondern sie entwerten die Welt der Erwachsenen; der demokratische Prozess wird infantilisiert. Denn selbstverständlich sind Kinder und Jugendliche in einem noch nicht abgeschlossenen, speziellen Entwicklungsstadium – körperlich, psychisch, sozial, ihre Bildung betreffend. Deshalb ergibt es auch Sinn, dass sie ein gewisses Alter erreichen, bis sie wählen dürfen, und dass sie nicht an den Trinkritualen der Erwachsenen teilnehmen, sondern mit dem Übergang zum Erwachsenenleben erst sukzessive „eingeführt“ werden.
Stattdessen ist der umgekehrte Prozess im Gange: Die Kinder- und Jugendwelt wird durch die nicht enden wollende Abstinenz auf das Erwachsenenleben ausgedehnt. Man bleibt bei Süßgetränken, Kakao, Tee und Kinderpunschvariationen. Denn darum handelt es sich letztlich, auch wenn das Mixgetränk dann Virgin Daiquiri heißen mag. Dahinter steckt eine spätmoderne Angst: In einer immer älter werdenden Gesellschaft mit einer dahinsiechenden Hochkultur fürchtet sich das Individuum davor, selbst älter zu werden und sich dem unvermeidlichen Tod stellen zu müssen.
Der Status geht vor Genuss
Man möchte „forever young“ sein, seine jugendliche Erscheinung nicht verlieren, die gesundheitlichen Prüfungen der profanen irdischen Welt von Schwindel, Kopfschmerz „am Morgen danach“ bis hin zu Leberproblemen auf immer vermeiden sowie – und das vor allem! – nicht seine Stellung und seinen Status im sozialen Gefüge gefährden, nur weil man in einer weinseligen Laune mit gelockerter Zunge ein womöglich schiefes Kompliment artikuliert oder eine unbequeme Wahrheit in allzu drastischen Worten laut ausgesprochen hat.
Doch noch ist es verfrüht, in einen endgültigen Abgesang auf unsere europäische Wein- und Trinkkultur einzustimmen. Denn auf Dauer ist es doch eine Schnapsidee, als Erwachsener diese Welt und dieses Leben in völlig nüchternem Zustand zu ertragen.
Conclusio
Befund. Der Alkoholkonsum sinkt, die Weinkultur erodiert. Doch Gesundheit ersetzt keine Lebensfreude.
Deutung. Hinter der Nüchternheit steckt Angst – vor Kontrollverlust, Alter und sozialem Risiko.
Ausblick. Eine reife Gesellschaft darf beides: Maß halten und genießen. Nur wer versteht, kann handeln.


