Promille, die die Welt bedeuten
Alkohol ist seit Jahrtausenden ein steter Begleiter des Menschen, er spielt bei Odysseus ebenso eine wichtige Rolle wie in der Bibel. Was wären wir ohne das Trinken?

Auf den Punkt gebracht
- Religion. Das Christentum schuf mit Messwein und Fastenbier eine enge Verbindung zwischen Glauben und Alkohol.
Geschichte. Schon Antike und Mittelalter kannten den Rausch als heiliges, gefährliches und gemeinschaftsstiftendes Phänomen.
Wirtschaft. Wein, Bier und Spirituosen waren Treiber von Handel, Kolonialismus und industrieller Innovation.
Gegenwart. Der Rausch verliert an Glanz – an seine Stelle treten Mäßigung, Kennerschaft und das Ritual des bewussten Genusses.
Kühne These: Verdanken wir unsere Neigung zum Alkohol dem Christentum? Ganz abwegig wäre das nicht. Schließlich hat eine Religion, die im gewandelten Wein das Christusblut sieht, eine innige Beziehung zu diesem Rauschgetränk. Gewiss, es gab klerikale Warner wie den irischen Priester Father Matthew (1790–1856), der ausgerechnet auf der Grünen Insel eine Temperenzlerbewegung einführte und totale Abstinenz predigte. Auch der trinkfreudige Reformator Martin Luther wusste, wovon er sprach, als er den Saufteufel als speziell deutsche Variante des Höllenfürsten definierte.
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Dass es in den USA dry counties gibt und dass 1920 bis 1933 staatlich verordnete Prohibition herrschte, hat auch religiöse Wurzeln. Aber eigentlich galt zumindest im Katholischen: Alkohol bricht das Fasten nicht. Im Gegenteil, die Starkbiersaison der Fastenzeit und die gewaltigen Verdienste von Klöstern um den Weinbau in Burgund und in der Wachau bezeugen die Verbundenheit von Kirche und Alkohol – ganz zu schweigen von den verblüffenden Deputat-Mengen, die Mönche früher erhielten.
Klar, der Wein war so dünn, dass man sogar Kinder davon trinken ließ, da man den Trinkwasserbrunnen misstraute. Aber Alkohol war es trotzdem. Waren die Menschen des Mittelalters, die den Tag gern mit Biersuppe begannen, fast durchgehend leicht benebelt?
Schlüpfrige Bibel-Geschichten
Wein und Bier sind sehr alte Kulturgüter. Ägyptische Grabmalereien zeigen, wie ein Getränk aus gegorenem Weizen den Göttern dargebracht wird. Die Antike hat mit dem ekstatischen Gott Dionysos bzw. Bacchus den Rausch in einen heiligen Rang erhoben.
Im Mythos, dass Dionysos mit seinem Gefolge aus paarungswilligen Nymphen und Satyrn einst aus Indien gekommen sei, schwebt noch eine Ahnung von Fremdheit gegenüber den orgiastischen Begleitererscheinungen heftigen Zechens. Dass das gefährlich sein kann, belegt auch der homerische Mythos des sizilianischen Kyklopen Polyphem. Odysseus macht das sizilianische Monster erst betrunken und sticht ihm dann sein einziges Auge aus.
Auch die Bibel kennt schlüpfrige Geschichten: Noah berauschte sich dermaßen, dass seine Söhne sein entblößtes Glied abdecken mussten. Lots Töchter machten ihren Vater so betrunken, dass er Inzucht mit ihnen trieb und so die Sippe fortpflanzte. Kein Wunder, dass der Talmud Wein als liturgisches
Sabbat-Getränk lobt, aber vor Exzessen warnt.
Rauschige Inspiration?
Bezeichnenderweise tobte im Hellenismus eine Debatte, ob Wasser- oder Weintrinker inspirierendere und inspiriertere Poeten seien: Ist das Schreiben im spirituellen Höhenflug des Rausches oder bei voller Intellektualität fruchtbringender? Ein wenig erinnert das an persische Diskussionen über die Dichtungen von Hafis und Omar Chayyam, die Wein vom Alkoholverbot des Islam ausnahmen.
In der heidnischen Antike war jedenfalls der Krater, der bei Symposien zum Einsatz kam, ein vernünftiger Kompromiss: Wein wurde darin mit Kräutern und Wasser gemischt – der erste Wermut?
Alkohol ist ein arabisches Wort und bedeutet „das Feinste“. In die europäischen Sprachen wanderte der Begriff mit der Erfindung des Destillierens durch orientalische Ärzte ein. So stammt das älteste Limoncello-Rezept vom jüdischen Hausarzt des über Ägypten und Syrien regierenden Sultans Saladin, also aus der Epoche der Kreuzzüge. Im Abendland dürfte zuerst die Medizinschule von Salerno mit Brennkolben experimentiert haben. 1285 rühmt der Katalane Arnaldus von Villanova Schnaps als Jungbrunnen; noch heute bedeutet Whisk(e)y wie Aquavit Lebenswasser! Doch was zunächst in Apotheken nur als Medizin erzeugt wurde, konnte in späteren Jahrhunderten zu Alkoholismus-Verelendung führen.
Beispiele sind der Londoner „Gin Craze“ um 1750 und die erschütternden Berichte über Moskauer Wodkaabhängige, die ihre letzte Kleidung versaufen, nachzulesen in Wladimir Giljarowskis Report Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen (1926). Wussten Sie, dass die britischen Pubs einen philanthropischen Ursprung haben und von der Regierung bewusst gefördert wurden? Die Arbeiter sollten lieber in gemütlicher Atmosphäre leichtes Bier trinken, als ihren Lohn für Hochprozentiges auszugeben.
Welterfolg Champagner
Alkoholika waren immer schon eine begehrte Handels- (und Schmuggel-)Ware. Gallische Keltenfürsten tauschten eine Amphore italischen Weins gegen einen Sklaven. Die ökonomische Potenz der Hanse beruhte auf der Verschiffung von Rotspon (altes Wort für Rotwein) und Bierfässern nach Skandinavien und ins Baltikum. Nicht nur Shakespeares Könige gierten nach süßem „Zyperwein“, der über den peloponnesischen Hafen Monemvasia exportiert wurde und deswegen den Namen Malvasier erhielt.
Holländer kamen auf die Idee, den dünnen Rebensaft der Charente (Region nördlich von Bordeaux) zu Cognac zu brennen, Spanier und Portugiesen belieferten die britische Navy mit aufgespritztem Sherry, Malaga oder Portwein. Das Barriquefass entstand, weil zwei Männer es an Bord eines Schiffes rollen konnten. Rum aus Übersee wurde zum Must-have, lange bevor internationale Konzerne den Spirituosenmarkt beherrschten.
Ein entscheidender technischer Fortschritt war die Produktion kompakter Glasflaschen, die allmählich Fässer ablösten. Das machte wiederum den Welterfolg luxuriöser flaschengegärter Champagner ab dem Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt erst möglich; Großabnehmer waren das zaristische Russland und Großbritannien.
Respekt! Ein ganzer Mann!
Alkohol steht für die Gefahr (oder das Vergnügen) des Kontrollverlusts. Trinkverhalten wurde gendermäßig bewertet, lange durften nur die Männer richtig saufen. Über ausgelassen zusammen trinkende Frauen, wie sie heute bei hen parties (das männliche Pendant heißt stag party) nicht überall willkommen sind, erfahren wir in der Geschichte eher selten.
Zahlen & Fakten
Dafür galten Damen, die in Gesellschaft von Männern dem Alkohol zusprachen, als leicht verführbar, wenn nicht gleich als Prostituierte. Liebestrank macht willig, nicht nur bei „Tristan und Isolde“. Die bis in die jüngste Gegenwart erotisch aufgeladene Champagnerwerbung spricht Bände.
Hingegen entwickelte sich eine typisch männliche Ethik des Wetttrinkens, bei der bestimmt wird, wer am meisten verträgt. Paradebeispiel: das Kommerstrinken männerbündlerischer Burschenschaften. Der sozial positive Aspekt an solchen Gelagen ist das Vertrauen, sich darauf einzulassen. Ein gemeinsamer Umtrunk besiegelte Verträge, hatte fast Rechtscharakter.
Ein Fall barocker Zecher-Humanität ist die Geschichte vom Rothenburger Meistertrunk: Der katholische Feldherr Tilly verschonte im Dreißigjährigen Krieg die Stadt, nachdem der evangelische Bürgermeister einen Humpen mit über drei Litern Wein in einem Zug geleert hatte. Respekt! Ein ganzer Mann!
Tempi passati. Heute ist Alkohol in der Krise, der Konsum geht kontinuierlich zurück. Die Gerätemedizin mit ihren exakten Messungen ermöglicht permanente Selbstoptimierung.
Seltsam aus der Zeit gefallen wirkt heute ein trotziges Statement wie in dem Italienguide „Osteria“ (1906) von Hans Barth, der lieber als zechender Bacchusjünger voll ins gesundheitliche Risiko gehen wollte, als ein alkoholfreies „Froschdasein“ zu verlängern.
Der Trend geht zu wenig und teurem Alkohol. Craftbierfläschchen erzielen Spitzenpreise, alkoholfreier Gerstensaft ist teilweise teurer als traditioneller. Das 0,1-Liter-Glas aus der Bouteille hat den billigen Doppler verdrängt. Cocktails werden immer öfter mit 0,0 Promille gemixt. Kontrollierter Genuss und Kennerschaft lösen in vielen Kreisen den Rausch als Zielvorgabe ab.
Archaische Rituale
Ist genau deswegen das Münchner Oktoberfest mit seinem archaischen Ritual, mit seiner verbindenden Zechergesellschaft, so populär, weil es das Kontrastprogramm zu diesen Tendenzen darstellt? Weil es eine Vergangenheit beschwört, in der das Trinken noch etwas galt und man auch mit dem fremden Nachbarn anstieß, ja manchmal sogar den Krug teilte?
Conclusio
Verwurzelt. Alkohol hat tiefe kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Wurzeln, die bis in die Antike reichen. Er war Handelsgut, Medizin, Ritual und Statussymbol. Bis heute trinken die Christen Wein als Blut des Erlösers.
Verändert. Die gesellschaftliche Funktion von Alkohol wandelte sich von Männlichkeits- und Gemeinschaftsritualen hin zu bewusstem Konsum und Alternativen. Alkoholfreies Bier und Mocktails sind derzeit auf dem Vormarsch.
Reflektiert. Aus der Geschichte lernen heißt, einen reflektierten und verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol zu entwickeln – die gesundheitlichen und sozialen Risiken sinken, aber der Genuss sollte trotzdem nicht zu kurz kommen.
