
Nüchtern betrachtet
Was ist bloß mit der Jugend los? Diese Frage wird neuerdings nicht mehr in Pensionistenheimen diskutiert, sondern unter Clubbing-Betreibern. Denn die Jungen trinken einfach nichts mehr! Alkohol, seit Jahrtausenden eines der beliebtesten Rauschmittel, verliert insgesamt an Bedeutung – auch aufgrund neuer Studien, die ihm eine höhere Gefährlichkeit attestieren, als bislang bekannt war.
Mehr zu Genuss
In einer Trinkernation wie Österreich, wo geschätzt 370.000 Menschen vom Alkohol abhängig sind und noch viele mehr einen problematischen Umgang damit haben, ist das grundsätzlich einmal eine gute Nachricht. 15 Prozent der Österreicher – rund eine Million Menschen – trinken in einem problematischen Ausmaß, erläutert Alkoholforscher Helmut Seitz vom Ethianum Heidelberg. Das ist mit all den Folgeerkrankungen des Konsums nicht zuletzt für das Gesundheitssystem eine Herausforderung.
Geliebtes Gift
Alkohol hat sich auch tief ins kulturelle Gedächtnis des Landes eingebrannt, wie der Historiker Roman Sandgruber schreibt. Laut dem heimischen Legendenschatz muss man nur betrunken genug sein, um wie der liebe Augustin sogar eine Nacht in der Pestgrube unbeschadet zu überstehen. Und frei ist Österreich sowieso nur, weil Julius Raab und Leopold Figl sogar die bekannt trinkfesten Russen unter den Tisch gesoffen haben.
Im Land der Reblaus
So problematisch die Glorifizierung des übermäßigen Alkoholkonsums auch ist, irgendwie bleibt bei all der neuen Nüchternheit trotzdem ein schaler Nachgeschmack. Vielleicht ist es die Absolutheit, mit der die Gefahren des Alkohols neuerdings verkündet werden. Das neue Mantra lautet: Jeder Schluck ist einer zu viel. Jedes Glas (ein Viertelliter Wein, ein halber Liter Bier) verringere die Lebenserwartung um fünf Minuten, schätzt der kanadische Forscher Tim Stockwell (was schlimmer klingt, als es ist: Nach der Rechnung könnte man 288 Jahre lang ein Glas Alkohol pro Tag trinken, bis man seine Lebenserwartung um ein Jahr verkürzt hat – und wäre bis dahin sowieso schon tot). Ja, Trinken ist schädlich, krebserregend und ungesund. Aber Fleisch zu essen, auch. Oder in einer Großstadt zu leben.
Mittlerweile, schreibt der Soziologe Daniel Kofahl, gibt es ein eigenes Krankheitsbild namens Orthorexia nervosa, das eine übertriebene, krankhafte Beschäftigung mit gesundheitsfördernder Lebensweise beschreibt. Er vermutet hinter dem Trend zur Abstinenz die spätmoderne Angst, in einer älter werdenden Gesellschaft selbst älter zu werden. Wir wollen für immer jung bleiben und deshalb auch nur Kindergetränke trinken.
Im Rausch der Nüchternheit
Dabei hat Alkohol, in Maßen genossen, durchaus seine Vorzüge. Abseits des Genusses fällt es Menschen nach einem Glas Wein oder Bier auch leichter, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten (und Einsamkeit verringert die Lebenserwartung noch stärker) – weshalb der britische Pharmakologe David Nutt übrigens an einer Substanz forscht, die wie Alkohol wirken soll, ohne dessen schädliche Nebenwirkungen zu haben.
Rausch ohne Kater
Die Geschichte des Alkohols
Alkohol war über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg ein steter Begleiter, wie der Gastrosoph Peter Peter erläutert: Die Katholiken trinken sogar das Blut Christi als Wein. Das Wort selbst stammt übrigens aus dem Arabischen, wie Peter berichtet, und es bedeutet: das Feinste.
Promille, die die Welt bedeuten
Unser Newsletter
Mehr Pragmaticus
Fakten gibt’s jetzt im Abo.
10 Mal im Jahr unabhängige Expertise, bequem in Ihrem Briefkasten. Die großen Fragen unserer Zeit, beantwortet von führenden Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Jetzt abonnieren




