Sagen Sie bloß nicht das N-Wort!
Die Grenzen des Sagbaren sind eng. Beim Oberbürgermeister der deutschen Universitätsstadt Tübingen genügte ein unbedachter Satz mit dem N-Wort, um ihn als „Nazi“ zu brandmarken.

Es ist der 28. April 2023. Ich bin auf dem Weg zu einer Konferenz über Migrationspolitik in der Goethe-Universität in Frankfurt. Vor dem Gebäude empfangen mich rund 30 Leute, großteils Studierende. Als sie mich erblicken, skandieren sie laut: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda.“ Ich bleibe stehen und beginne im Rhythmus mitzuklatschen. Das verwirrt die Menge, und es wird still.
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Meine Zustimmung zu ihrer Parole hatten sie nicht erwartet. Doch sie ist offenkundig richtig, warum also nicht klatschen? Ich dürfe hier nicht auftreten, ich sei ein Rassist, sagen die Demonstranten. „Warum?“, will ich wissen. Weil ich das N-Wort benutzt habe, antwortet eine junge Frau. Ich bestätige das, spreche das Wort aus und gehe sofort in einem empörten Geschrei unter. „Rassist“ und „Nazi“, schallt es mir entgegen. Dann geht der Sprechchor wieder los. Keine Chance, mit Argumenten Gehör zu finden.
Die Szene wurde von einem Dokumentarfilmer festgehalten. Man kann sie in der Mediathek der ARD am Beginn des Films „Der Palmer-Komplex“ ansehen und sich ein eigenes Bild machen. Für mich hatten die Vorkommnisse gravierende Auswirkungen. Der Institutsleiter verlangte von mir vor meinem Auftritt auf der Konferenz eine Erklärung. Ich erläuterte der Versammlung, was passiert war und warum ich das Wort „Neger“ ausgesprochen habe, wenn es im Kontext notwendig war.
Ich hatte das Wort immer wieder explizit benutzt, aber nur in Debatten, in denen verlangt wurde, dass man es nicht mehr benutzen darf, um zu erklären, dass die Forderung falsch sei. „N-Wort“ zu sagen, erklärt ja gerade nicht die Empörung. Daraufhin verließ der Moderator den Saal und sagte dabei: „Mit Ihnen will ich nichts mehr zu tun haben.“ Er erklärte mir später am Abend, dass er schon im Vorfeld massiv unter Druck gesetzt worden war, die Veranstaltung abzusagen, und mit der Distanzierung seine Haut retten musste im akademischen Betrieb.
Der Shitstorm
Am nächsten Tag wurde mir klar, wovor er flüchtete. Die N-Wort-Debatte geriet durch gezielt in den sozialen Medien lancierte Videoaufnahmen in den Hintergrund. Dort wurde ein Satz von mir verbreitet, den ich den Demonstranten am Schluss der Auseinandersetzung unüberlegt hingeworfen hatte: „Das ist nichts anderes als der Judenstern – ein falsches Wort, und schon ist man für euch ein Nazi.“
Das Präsidium der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlichte am nächsten Morgen eine Presseerklärung, in der kein Wort über die aufgepeitschte Menge vor dem Konferenzraum verloren wurde. Stattdessen wurde mir eine rassistische und den Holocaust relativierende Wortwahl vorgeworfen und diese durch den Präsidenten der Universität auf das Schärfste verurteilt: Für die Reputation jedes Politikers, der nicht dem AfD-Spektrum angehört, ein geradezu tödlicher Vorwurf.
Der Skandal schaffte es bis in die Tagesschau. Nahezu jedes Medium berichtete von meiner „verbalen Entgleisung“. Forderungen nach Rücktritt und einem Parteiausschluss wurden laut. Meine gesamte politische und berufliche Existenz schien kurz vor der Vernichtung. Drei Tage nach dem Vorfall erklärte ich nach 27 Jahren Mitgliedschaft meinen Austritt aus der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ und nahm mir eine Auszeit, um für mich selbst einen Weg in die Zukunft zu finden. Ob ich noch Oberbürgermeister von Tübingen bleiben könnte, schien fraglich.
Ächtung statt Debatte
Der Fall steht exemplarisch für die Degenerierung des Diskurses in unserem Land. An die Stelle des Austausches von Argumenten tritt die moralische Erniedrigung und gesellschaftliche Ächtung Andersdenkender. Sofortetikettierung macht Debatten in der Sache unnötig.
Das hat einen simplen Grund: Es ist effizienter, den Gegner mundtot zu machen, seine gesellschaftliche Stellung zu vernichten und ihn moralisch zu diskreditieren, als sich den Mühen einer inhaltlichen Debatte zu stellen. Gerade die Flüchtlingspolitik steckt voller Dilemmata und Widersprüche. Praktische Anforderungen stoßen sich hart mit Prinzipien und Idealen. Wer sich dem nicht stellen will, kanzelt kritische Stimmen als die von Rassisten, Nazis und rechten Hetzern ab.
Wer sich praktischen Anforderungen in der Flüchtlingspolitik nicht stellen will, kanzelt kritische Stimmen als die von Rassisten, Nazis und rechten Hetzern ab.
Deutlich sichtbar wurde auch die extreme Beschleunigung der Debatten und die Kraft der Empörung. Das Präsidium der Universität Frankfurt gab seine vernichtende Stellungnahme keine zwölf Stunden nach dem Ereignis ab. Niemand hatte vorher versucht, meine Sicht auf die Ereignisse zu erfragen. Audiatur et altera pars – auch die andere Seite sei zu hören, wussten schon die Römer. Vorbei. Den Takt geben die sozialen Medien und deren Empörungswellen vor.
Gut und Böse ist klar verteilt, wenn auf der einen Seite Studierende gegen rechts und für die Menschenrechte von Geflüchteten eintreten und auf der anderen Seite ein Kommunalpolitiker von den Problemen der Integration dieser Menschen berichtet. Ob es nicht ebenso kritikwürdig ist, einen demokratisch legitimierten Oberbürgermeister als Nazi zu etikettieren, war in der Berichterstattung schlicht kein Thema.
Argument statt Empörung
Auch ein dritter Mechanismus war bei diesem Event in Reinform zu besichtigen: der „Rette-sich-wer-kann-Reflex“. Die Empörungswellen sind so mächtig geworden, dass man allein in der Brandung steht. Von den Teilnehmern der Veranstaltung wagte niemand, sich hinter mich zu stellen, ausnahmslos alle suchten weiten Abstand.
Die Triebfeder des Präsidiums der Universität Frankfurt war primär, nicht in Haftung für das Geschehene genommen zu werden. Denn wenn etwas vermeintlich Rassistisches an einer Universität gesagt wird, dann sind maximale Distanzierung und Verurteilung die erste Pflicht. Andernfalls richtet sich die Empörungswelle gegen diejenigen, die solchen Thesen „eine Bühne“ bieten, wie es dann heißt.
Klartext statt Kontaktschuld
Dahinter steht die Kontaktschuldtheorie. Demnach wird man selbst mitschuldig, wenn man gemeinsam mit Sprachdelinquenten auftritt, mit ihnen diskutiert oder gar mit ihnen publiziert. Davor bringt man sich am besten schnell in Sicherheit.
Zwei Jahre später hat Deutschland einen Bundeskanzler, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Verzogene Bengel aus muslimischen Familien nennt er „kleine Paschas“, Israel attestiert er die Übernahme von „Drecksarbeit“ im Krieg gegen den Iran, und Regenbogenfahnen vor dem Bundestag will er nicht alle Tage haben, weil dieser ja „kein Zirkuszelt“ sei.
Die Empörungswellen prallen an ihm ab. Ich habe die Hoffnung, dass Merz’ Verhalten dazu beiträgt, dass wieder mehr Menschen ihre Meinung sagen und die Methode der gesellschaftlichen Ächtung zurückgedrängt wird. Der sanfte Zwang des Arguments ist frei nach Habermas die richtige Methode zur Entscheidung strittiger Fragen in der Demokratie. An diesem Ideal sollten wir alle arbeiten.