Die Knochen der Erkenntnis

Katerina Douka arbeitet daran, aus antiker DNA neue Erkenntnisse zu extrahieren – und hat damit bereits unsere Vorstellungen über die menschliche Urgeschichte auf den Kopf gestellt.

Die Archäologin Katerina Douka erforscht die menschliche Urgeschichte
Die Archäologin Katerina Douka erforscht die menschliche Urgeschichte anhand modernster Analysemethoden. © Gregor Kuntscher

Wenn Archäologen unter sich sind, dann scherzen sie gerne, dass Archäologie „rubbish“ sei, also Müll. Weil das, was sie suchen und finden, die liegengelassenen Überreste alter Zivilisationen sind. „Zum Beispiel zerbrochene Krüge oder abgebrochene Werkzeuge“, sagt Katerina Douka, die am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien forscht. Und nun stellt sich heraus: „Selbst das, was sogar wir Archäologen früher als Müll betrachtet haben, enthält wertvolle Informationen.“

Der Ikea-Frischhaltebeutel, den Douka aus ihrem Kasten holt, dient als Anschauungsobjekt dafür: hunderte, wahrscheinlich tausende kleine Knochensplitter befinden sich darin. Bis vor kurzem waren solche Splitter für Archäologen komplett wertlos. „Was hat man damit also gemacht? Entweder man hat sie weggeworfen oder man war klug und hat sie aufgehoben für eine Zukunft, in der wir etwas damit anfangen können“, sagt sie. Diese Zukunft ist jetzt. Und Douka ist an vorderster Front mit dabei, die Urgeschichte des Menschen mithilfe modernster Technologien neu zu schreiben.

Die Urgeschichte als Berufung

Das bedeutet, dass sie mittlerweile viel mehr Zeit im Labor als bei Ausgrabungen verbringt, auch wenn sie diese vermisst. „Man reist, verbringt Wochen und Monate auf engstem Raum, isst und trinkt gemeinsam – es entstehen sehr tiefe Verbindungen zu anderen Menschen“, erzählt sie. „Die Archäologie ist wirklich eine Berufung“, sagt die gebürtige Griechin – und ihre Herkunft, sagt sie, ist auch ein Grund, warum ihr diese Berufung quasi in die Wiege gelegt wurde. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt aber ein paar zehntausend Jahre vor der Antike: In der Urgeschichte, als die Menschen sich gerade über den Planeten ausbreiteten.

Knochensplitter aus der Denisova-Höhle in Sibirien
Einst waren Knochensplitter wie diese wertlos, jetzt können sie neue Erkenntnisse liefern. © Gregor Kuntscher

Seit einigen Jahren wissen wir, dass der Homo sapiens der Urgeschichte nicht allein war. Heute fällt es schwer, sich das überhaupt vorzustellen: Dass es neben dem Menschen noch eine weitere Spezies gibt, die anders ist als wir – aber dennoch menschlich. „Dass sie nicht nur eine andere Haar- oder Hautfarbe haben, sondern tatsächlich anders aussehen“, sagt Douka. Und gleich nebenan leben. Genau so muss man sich aber die Urgeschichte vorstellen: Menschen lebten zumindest einige tausend Jahre lang neben Neandertalern. Und es kristallisiert sich mehr und mehr heraus: Homo sapiens und Neandertaler waren bei weitem nicht die einzigen Menschen, die den Planeten bevölkerten.

Das Potenzial der DNA

2003 wurden auf der indonesischen Insel Flores die Überreste einer kleinwüchsigen Art der Gattung Homo entdeckt, sie werden gerne als Hobbits bezeichnet. Und seit 2010 wissen wir von den Denisova-Menschen, benannt nach der sibirischen Denisova-Höhle, in der sie entdeckt wurden. Deren Entdeckung zeigte das Potenzial der neuen archäologischen Möglichkeiten: „Wir wissen von den Denisova-Menschen lediglich aufgrund der DNA, die dort gefunden wurde.“

An diesem Punkt kommt der Frischhaltebeutel wieder ins Spiel: Es ist mittlerweile möglich, auch aus jahrtausendealten Knochen Kollagen zu extrahieren – und anhand dieses Kollagens können Douka und ihre Kollegen selbst bei einem kleinen Knochensplitter bestimmen, von welcher Spezies sie stammen. „Das meiste ist völlig uninteressant; Hyänen, Mammuts, Pferde und so weiter“, erzählt sie. Aber: Rund einer von tausend Splittern ist menschlich. Der Denisova-Mensch wurde anhand eines Fingerknochens entdeckt.

Katerina Douka und ihr Mitarbeiter im Labor
Die Analyse der Proben ist ein zeitaufwändiger und mühsamer Prozess. © Gregor Kuntscher

Der Weg vom Knochen zur Erkenntnis ist ein mühsamer: Von jedem einzelnen Splitter muss eine Probe genommen werden, dann werden sie in Chargen von 50 bis 100 Proben analysiert. Erfahrene Labormitarbeiter schaffen bis zu 300 Proben in einer Woche. Wenn dann unter all den Splittern ein menschlicher gefunden wird, ist es für Douka und ihre Kollegen Zeit, die DNA zu extrahieren – und dafür einen Ganzkörperanzug anzulegen. „Damit wir die Probe nicht mit unserer DNA kontaminieren“, erklärt sie. Das Ergebnis sei den Aufwand aber definitiv wert: „Von einem Knochensplitter können wir ganze Generationen zurückverfolgen.“ Damit könne man herauslesen, wie groß die Gemeinschaften waren, in denen die Menschen damals lebten, ob es zu Inzucht kam und so weiter.

Denny: Ein Knochensplitter als Sensationsfund

Mit dieser Methode kam es auch zu einem Sensationsfund, an dem Douka beteiligt war: Ihre Forschungsgruppe begann nach der Entdeckung des Denisova-Menschen, weitere Knochensplitter aus der Denisova-Höhle zu untersuchen – mit zunehmend schwindender Hoffnung auf Erfolg. Eine australische Studentin aber wollte nicht aufgeben. Probe 1227 war dann Denny.

So nannten sie das Mädchen, das vor zigtausenden Jahren in der Höhle starb und deren Knochensplitter nun identifiziert wurden. Zunächst machte sich nach der DNA-Analyse wieder Ernüchterung breit: Sie war ein Neandertaler, von dieser Spezies gibt es wahrlich genug und weitaus bessere erhaltene Überreste. Dann aber die Überraschung: Eine weitere Analyse ergab, dass zwar die Mutter ein Neandertaler war, der Vater aber zur Denisova-Spezies gehörte. Denny ist der erste bekannte direkte Nachkomme von zwei unterschiedlichen menschlichen Spezies. Der Nachweis, dass das biologisch und kulturell möglich war.

Denny starb, als sie älter als 15 Jahre alt war – das zeigt, dass man sich um sie gekümmert hat, sie großgezogen und nicht etwa als Bastard zwischen zwei Spezies verstoßen wurde. Wir wissen heute auch, dass alle Menschen außerhalb Afrikas (wo der Neandertaler nie lebte) noch Neandertaler-DNA in ihrem Erbgut haben, dass sich Homo sapiens und Neadertaler paarten.

Die Geheimnisse der Urgeschichte

Warum sich am Ende der Homo sapiens durchgesetzt hat, warum alle anderen Menschen ausgestorben sind, „werden wir vermutlich nie genau wissen“, sagt Douka. Zumindest beim Neandertaler gibt eine grobe Idee: „Er hat sich immer weiter ausgebreitet und irgendwann waren die Populationen zu weit verstreut.“ Damit wurden diese isolierten Populationen kleiner, inzestuös und starben schließlich aus. Homo sapiens lebten hingegen in größeren, besser vernetzten Gruppen. Vermutlich war es also nicht der Homo sapiens, der den Neandertaler ausrottete: „Es gab keine weit verbreitete Gewalt zwischen den Gruppen, es ist nicht so, dass alle Schädel der Neandertaler plötzlich Axtschläge zeigen, seitdem sich die Menschen verbreiteten“, sagt sie.

Ein Kasten mit archäologischen Proben.
In den Kästen des Instituts warten unzählige Proben darauf, analysiert zu werden. © Gregor Kuntscher

Diese Erkenntnisse sind nur ein Beispiel dafür, wie sich die Archäologie in den vergangenen Jahren durch neue Technologien rapide weiterentwickelt hat. Mittlerweile können sogar Ablagerungen im Boden analysiert werden, um mehr über die Urgeschichte des Menschen zu verstehen – weil sich auch dort antike DNA verbirgt. „Denn Menschen haben hier gelebt, geschlafen, uriniert und so weiter“, sagt Douka.

In Zukunft, glaubt sie, wird sich vor allem die Geschwindigkeit der Analyse ändern und die Flut an neuen Daten wird zu einem detaillierten Bild des Lebens in der Urgeschichte führen. „Wir wollen verstehen, wie divers unser Planet in Bezug auf menschliche Spezies war“, sagt Douka. In ihrem neuen Projekt „Rift-to-Rim“ versucht sie, die Spuren der ersten Menschen in abgelegeneren Gegenden zu erforschen – Ost-Afrika oder Papua-Neuguinea. „Papua-Neuguinea ist der diverseste Ort der Welt, noch heute gibt es dort unglaublich viele isolierte Gruppen, die rund 800 verschiedene Sprachen sprechen.“ Und, so die Hoffnung, auch weitere ausgestorbene Arten der Spezies Homo zu entdecken.

Über diese Serie

Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast bei Peter Turchin vom Complexity Hub, der die USA vor einem Bürgerkrieg sieht, hat mit Stefan Mayr von der Uni Innsbruck über die Zukunft der Alpenwälder unterhalten und sich von Lisa Bugnet am ISTA erzählen lassen, wie die Sterne klingen. Alle Forschungsreisen können Sie hier nachlesen.

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