Die Suche nach der Wirklichkeit

Krise folgt auf Krise. Erst mussten wir uns um das Klima sorgen, jetzt geht es um Kriege und den Aufstieg rechter Populisten. Wie viel Veränderung verträgt der Mensch?

Die Illustration zeigt eine Person, um deren Kopf verschiedene symbolische Elemente kreisen. Dazu gehören ein Virus, eine brennende Erde, Raketen Trump und Putin. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, warum wir in Zeiten der Verunsicherung einen neuen Realismus brauchen.
Wie viel Veränderung verträgt der Mensch eigentlich? Und was passiert, wenn die Bevölkerung überfordert wird? © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Unsicherheit. Kriege und wirtschaftliche Herausforderungen haben Europa aus seiner langen Friedensperiode herausgerissen und führen zu wachsender Verunsicherung.
  • Informationsflut. Die ständige Präsenz von negativen und falschen Nachrichten durch neue Medien überfordert viele Menschen und erschwert sachliche politische Diskussionen.
  • Spaltung. Die Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten und radikaler Aktivismus verstärken gesellschaftliche Spaltungen und schwächen die staatliche Autorität.
  • Realismus. Ein neuer Realismus ist notwendig, um die extreme Polarisierung zu überwinden und durch Dialog eine gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen.

Wir leben in turbulenten Zeiten, Krisen wechseln einander innerhalb kurzer Zeitspannen ab. Eben noch war der Klimawandel das scheinbar wichtigste Problem, jetzt geht es um Kriege, Terrorismus und den Aufstieg rechter Parteien. Die Frage „Wie viel Veränderung verträgt der Mensch?“ scheint heute berechtigter als je zuvor. Was sind die Gründe für die Verunsicherung, die derzeit viele Menschen erleben?

Das Ende der Sorglosigkeit

Veränderungen gab es immer. Man kann die Geschichte auch als eine Abfolge von Kriegen, Wirtschaftskrisen, sozialen und politischen Umbrüchen und Naturkatastrophen sehen. Dennoch haben viele Menschen den Eindruck, dass die Veränderungen heute besonders disruptiv sind. Ein Grund dafür kann darin liegen, dass Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine der längsten Friedensperioden in der Geschichte sowie einen andauernden, nur durch kurze Krisen unterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat. Dazu hat der Prozess der europäischen Integration wesentlich beigetragen.

Aber Europa ist längst keine Insel der Seligen mehr, sondern von den Krisen in der Welt mit betroffen.

Sowohl der Ukrainekrieg als auch Terror und Krieg in Nahost haben Auswirkungen in den EU-Ländern. Und letztlich hat der Wahlsieg Donald Trumps wirtschaftliche und sicherheitspolitische Konsequenzen.

In der EU betonte man vor kurzem noch die Rolle als Vorreiter in der Klimapolitik, als Bewahrer von Idealen wie Freiheit und Demokratie. In letzter Zeit hat sich jedoch gezeigt, dass Wohlstand nicht von Dauer sein muss, dass Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist, Kriege in Europa durchaus möglich sind und die Probleme draußen in der Welt auf uns zurückwirken.

Bad News und Fake News

Smartphones gibt es erst seit etwa fünfzehn Jahren, doch sie haben in dieser Zeit die Art, wie wir leben, unseren Alltag gestalten und soziale Beziehungen pflegen, total verändert. Der technische Wandel rast mit enormem Tempo über uns hinweg, und viele Menschen fühlen sich überfordert durch den Zwang, sich immer wieder an Neuerungen anzupassen.

Zusätzlich verschafft das Internet den Menschen permanent Einblick in politische Vorgänge, weltweite Ereignisse und wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Fülle der Informationen in unterschiedlichsten Bereichen führt allerdings immer weniger zu einem Wissensgewinn, sondern zu Verunsicherung und Überforderung – auch, weil die meisten Nachrichten „bad news“ sind, manchmal sogar „fake news“. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Wahrheit und Täuschung verschwimmen zunehmend.

Die neuen Medien geben theoretisch jedem die Möglichkeit zur Mitsprache. Das hätte die Demokratie beflügeln können. Aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Oft sind es besonders laute, aktive Minderheiten, die im Netz den Ton angeben.

Veränderungen gab es immer. Wir sollten wieder lernen, sie als normale Erfahrungen des Lebens zu verstehen, die positive und negative Auswirkungen haben können.

Zudem kommt es in den sozialen Medien zur gegenseitigen Verstärkung von Meinungen bis hin zur Radikalisierung. Es entstehen Echokammern, die oft von Intoleranz oder sogar Hass gegen Andersdenkende geprägt sind. Darunter leidet dann auch der politische Diskurs. Tempo und Dichte der Nachrichten erzeugen den Eindruck ständiger Aufgeregtheit. Das macht eine sachlich fundierte Politik, die langfristige Ziele verfolgen will, schwierig und fördert populistische Tendenzen.

Je radikaler, desto lauter

Die Zivilgesellschaft hat heute viele Möglichkeiten, sich zu äußern und Protest zu üben. Das ist grundsätzlich positiv, fördert aber auch gesellschaftliche Spaltungen und den Autoritätsverlust des Staates. Zahlreiche aktuelle Probleme, darunter etwa der Klimawandel, wären nur weltweit zu lösen – und das würde tiefe Eingriffe in unsere Lebensweise erfordern. Und es ist politisch nur noch schwer durchsetzbar.

Für die Politik ergibt sich daraus ein Dilemma: Staaten sind immer schwerer regierbar, was die Verunsicherung und den Imageverlust der Politik weiter befeuert. Identitätspolitik, Proteste gegen Rassismus und Faschismus, zuletzt der vor allem im linken Lager zunehmende Antisemitismus, entwickelten in den vergangenen Jahren eine massive Präsenz. Der Begriff der „wokeness“, also das Wachsein in Bezug auf Missstände, wird oft mit großer Intoleranz vertreten, was vernünftige Debatten de facto unmöglich macht.

Der oftmals radikale Aktionismus dieser Gruppen, ihre Kampfattitüde und Intoleranz kamen jedoch bei der Mehrheit der Menschen auf Dauer nicht gut an. In diesem Sinn leisteten Gruppen wie die „Letzte Generation“ dem an sich berechtigten Anliegen des Klimaschutzes einen Bärendienst. Die Gegenreaktion zum woken Zeitgeist brachte einen Aufstieg populistischer Politik und rechter politischer Parteien. Auch die Pandemie hat die Spaltung der Gesellschaft im Sinne eines Freund-Feind-Schemas verstärkt, was es Populisten recht einfach machte, die Proteste gegen die verordneten Maßnahmen für sich zu vereinnahmen.

Was können Politik, Wissenschaft und letztlich wir alle tun, um der Verunsicherung, Polarisierung und Überforderung entgegenzuwirken?

Veränderungen gab es immer. Wir sollten wieder lernen, sie als normale Erfahrungen des Lebens zu verstehen, die positive und negative Auswirkungen haben können. Manche Aktivisten übersehen, dass sie ihre Ziele nur zusammen mit der Mehrheit erreichen können. Statt Gefühle, Ideale, Werte und Ideologien zu beschwören, müssen wir uns wieder mehr der oft unbequemen Realität stellen, in der es selten einfache Lösungen gibt.

Es braucht Zeit und persönlichen Aufwand, sich mit den Ursachen und Auswirkungen von Konflikten auseinanderzusetzen. Ein neuer Realismus ist notwendig, der sachlich und objektiv und mit einer Prise Skepsis auf das Geschehen blickt, nicht einseitig an die Probleme herangeht, sondern versucht, eine Thematik von allen Seiten zu beleuchten.

Modewort „Narrativ“

Die Realität ist weder wahr noch falsch, weder gut noch schlecht, sie ist auch kein „Narrativ“. Dieser Begriff ist zu einem Modewort geworden, wobei meist übersehen wird, dass er auf der Leugnung von Realität beruht. Denn Erzählungen kann es viele geben, und man kann immer neue erfinden. Damit Verständigung überhaupt möglich wird, bedarf es jedoch einer gemeinsamen Wirklichkeit. Dieser neue Realismus darf allerdings weder naiv sein noch von der Annahme einer objektiven und einheitlichen Realität ausgehen, sondern muss auf einem Diskurs über die „Wirklichkeit der Wirklichkeit“ beruhen.

Es gilt, Brücken zu schlagen zwischen den immer gegensätzlicheren Positionen, Narrativen und Echokammern. Es braucht wieder deutlich mehr Bereitschaft, sich in die Situation Andersdenkender hineinzuversetzen. Das ist ein schwieriger Prozess. Doch nur die Annahme einer gemeinsamen Wirklichkeit und ihre Realisierung im Dialog werden Konflikte und die extreme Polarisierung von Standpunkten überwinden und damit pragmatische Lösungen ermöglichen.

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Conclusio

Global denken. Europa ist nicht mehr isoliert, sondern von globalen Krisen betroffen. Konflikte wie der Ukrainekrieg und internationale Spannungen zeigen, dass Wohlstand und Sicherheit keine Selbstverständlichkeiten sind, was zu wachsender Verunsicherung führt.

Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Flut an Informationen durch Smartphones und Internet führt eher zu Verwirrung als zu Klarheit, da viele Nachrichten negativ oder gar falsch sind. Dies erschwert sachliche politische Diskurse und fördert populistische Tendenzen.

Mehr Praxisdenken. Radikaler Aktivismus und Intoleranz behindern vernünftige Debatten. Ein neuer Realismus, der sachlich und objektiv ist, kann helfen, die extreme Polarisierung zu überwinden und pragmatische Lösungen zu finden.

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