1945 und das Jahrzehnt der Ortlosigkeit

Viele Millionen Menschen irrten nach 1945 nach dem expansiven Vernichtungskrieg NS-Deutschlands heimatlos durch Europa. Solidarität und Hilfe wurde nur wenigen zuteil.

Bei Walternienburg im heutigen Sachsen-Anhalt Anfang 1945. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Jochen Oltmer über Migration ab 1945 im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Deutschland.
Bei Walternienburg im heutigen Sachsen-Anhalt Anfang 1945. Diese Flüchtlinge flüchten vor der vorrückenden Roten Armee und vermeiden dabei die Straßen. Vor ihnen liegt die Elbe, die sie wahrscheinlich nicht werden überqueren können. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Folgen. Der expansive Vernichtungskrieg NS-Deutschlands und das System der Zwangsarbeit führte 1945 zu Abermillionen heimatlosen Menschen.
  • Regulation. Gesetze und sorgfältige Unterscheidungen dienten noch vor Gründung der BRD der Steuerung von Migration.
  • Abwehr. Wer 1945 in Deutschland auf der Flucht, Vertrieben oder ortlos war, stieß auf Ablehnung und Feindlichkeit.
  • Wirkung. Regulierungen aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt wirken bis heute nach. Unter anderem die Definition, wer Deutscher ist oder nicht.

Eine geläufige Kriegsfolge ist Migration. 50 bis 60 Millionen Menschen flohen in Europa 1939 bis 1945 aufgrund von Expansion und Niedergang NS-Deutschlands oder wurden vertrieben beziehungsweise deportiert. Ein Teil von ihnen ergriff die Flucht vor vorrückenden Fronten oder Luftangriffen.

Das Nachkriegsjahrzehnt

Weit mehr als zehn Millionen wurden in anderen Ländern, meist Osteuropas, als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft zwangsrekrutiert. Dieser durch die Androhung und Anwendung von Gewalt herbeigeführte „Ausländereinsatz“ blieb historisch ohne Parallele. Außerdem führte die Etablierung einer streng nach rassistischen Kriterien ausgerichteten deutschen Ordnung in den besetzten Gebieten zur Vertreibung, Deportation und Ermordung ganzer Bevölkerungen zugunsten eines vorgeblichen deutschen „Volk ohne Raum“.

Millionen Menschen am falschen Ort

Der deutsche Raub- und Vernichtungskrieg blieb nicht folgenlos: Nach Kriegsende 1945 stellten die Überlebenden der NS-Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager das Gros der zehn bis zwölf Millionen sogenannten Displaced Persons (DPs). Als dieser Kategorie zugehörig galten all jene, die sich kriegsgedingt außerhalb ihrer Herkunftsstaaten befanden (sofern es sich nicht um Deutsche handelte) und die im zerstörten Europa nur im Rahmen einer weit ausgebauten alliierten Infrastruktur der Hilfe versorgt werden konnten.

Essensausgabe in einem Lager für Displaced Persons in Berlin im Mai 1945. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Jochen Oltmer über Migration ab 1945 im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Deutschland.
Essensausgabe in einem Lager für Displaced Persons in Berlin im Mai 1945.

Das Ziel der Alliierten bestand darin, die DPs zu sammeln und rasch in ihre Herkunftsländer zurückzubringen, was über die Jahre auch weitgehend gelang. Für jene DPs, die nicht zurückkehren konnten oder wollten, boten alliierte Umsiedlungsprogramme eine neue Perspektive. Bis 1951 ermöglichten sie mehr als 700.000 DPs eine Niederlassung vor allem in den USA, in Australien und Kanada.

Nur ein kleiner Teil der DPs, vielleicht 150.000, blieb in Deutschland zurück. Für sie schuf die Bundesrepublik 1951 auf alliierten Druck einen im Vergleich zum internationalen Flüchtlingsrecht großzügigen Rechtsstatus, der aber keine Entschädigung oder eine erleichterte Einbürgerung vorsah, weshalb sie in der Regel über Jahrzehnte mit dem Status des „heimatlosen Ausländers“ vorliebnehmen mussten.

Das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu den DPs war in der Nachkriegszeit von Vorurteilen, Verachtung, aber auch Neid geprägt: Dabei wirkte die diskriminierende NS-Rede von den „Untermenschen“ aus dem Osten weiter. Hinzu kamen verallgemeinernde und Schrecken verbreitende Nachrichten über gewalttätige Ausschreitungen und Plünderungen befreiter Zwangsarbeitskräfte.

Jülich im April 1945: Polnische und sowjetische Staatsbürger, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren, vor ihrer Abreise. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Jochen Oltmer über Migration ab 1945 im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Deutschland.
Jülich im April 1945: Polnische und sowjetische Staatsbürger, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren, vor ihrer Abreise.

Außerdem galten DPs als in der Obhut der Alliierten stehende Privilegierte. Nur selten sah die deutsche Nachkriegsgesellschaft in den DPs mehr als ein Besatzungsproblem – ihr Schicksal als Opfer der NS-Herrschaft wurde weithin beschwiegen.  

Abwehrhaltungen der Einheimischen erlebten die sogenannten Flüchtlinge und Vertriebenen nicht minder: Zwischen Ende 1944 und 1949 sind etwa 14 der möglicherweise 18 Millionen deutschen Staatsangehörigen in den ehemaligen Ostprovinzen des Reiches sowie „Volksdeutschen“ in den außerhalb der Reichsgrenzen gelegenen weiträumigen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa geflohen („Flüchtlinge“) oder nach Kriegsende ausgewiesen beziehungsweise gewaltsam deportiert worden („Vertriebene“).

Sie waren Opfer von Hass und Bestrafung angesichts des deutschen Krieges im Osten geworden. Außerdem erschien es den neuen Eliten in Polen, der Tschechoslowakei oder Jugoslawien wegen der Instrumentalisierung deutscher Minderheiten für die Interessen des Deutschen Reiches in der Vorkriegszeit ratsam, sie vom Territorium zu entfernen. Leitend war die Vorstellung, ein Nationalstaat sei erst dann vollendet, wenn er eine homogene Bevölkerung habe.

Im von durch massive Zerstörungen gekennzeichneten, verkleinerten und übervölkerten Nachkriegsdeutschland galt die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen als unlösbares Problem: Nach den Daten der Volkszählungen in beiden deutschen Staaten von 1950 waren knapp 12,5 Millionen der Flüchtlinge und Vertriebenen in die Bundesrepublik (rund zwei Drittel) und in die DDR (circa ein Drittel) gelangt; weitere 500.000 lebten in Österreich und anderen Ländern. Mutmaßlich mehrere Hunderttausend Menschen hatten Flucht und Vertreibung nicht überlebt.

Mai 1945 in Berlin. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Jochen Oltmer über Migration ab 1945 im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Deutschland.
Mai 1945 in Berlin.

Konflikte zwischen länger Ansässigen und Flüchtlingen bestimmten den Nachkriegsalltag. Diese galten einer repräsentativen Umfrage kurz vor der Gründung der Bundesrepublik zufolge 61 Prozent der Einheimischen als „unerwünschte Störenfriede“.

Für Spannungen sorgte vor allem die Wohnungsversorgung. Zwangseinweisungen in bestehenden Wohnraum, das Leben in spartanischen „Notwohnungen“ oder in Lagern waren gang und gäbe. 1939 hatte die Belegung einer Wohnung bei durchschnittlich 3,8 Personen gelegen. 1950 war sie auf sechs gestiegen. 1946 gab es allein in Bayern 1.381 Flüchtlingslager. Und noch zehn Jahre nach Kriegsende zählte das Bundesgebiet davon 1.907. Wenngleich der massive Wohnungsbau die Wohnverhältnisse der Flüchtlinge denen der Einheimischen in den 1950er und 1960er Jahren anglich, wurden die letzten Lager erst Anfang der 1970er Jahre aufgelöst.

Auch die Teilhabe am Arbeitsmarkt bildete für die Flüchtlinge eine immense Herausforderung. Sie waren etwa in Niedersachsen 1950 dreimal häufiger erwerbslos als die schon länger Ansässigen. Und sie bildeten ein qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, das den ökonomischen Wiederaufstieg seit Anfang der 1950er Jahre entscheidend mittrug. Dabei prägte sich das für viele Migrationen typische „Unterschichtungsphänomen“ aus: Flüchtlinge übernahmen hauptsächlich statusniedrigere berufliche Positionen und verfügten dementsprechend über geringere Einkünfte.

Migrationsbezogene Wegweisungen nach 1945

Bedingungen und Erfahrungen der Nachkriegszeit führten zu Rechtsnormen, die für die Entwicklung der Migrationsverhältnisse in der Bundesrepublik bis in die Gegenwart wegweisend waren. Der 1948/49 geschaffene Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bot mit der Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf Schutz. Es markierte zwar auch eine symbolische Distanzierung von der NS-Vergangenheit.

Deutlich stärker bestimmend für die offene Formulierung aber war ein anderer Aspekt: Die Mitglieder des verfassunggebenden Parlamentarischen Rats gingen davon aus, dass der größte Teil derjenigen, die das Asylrecht in Anspruch nehmen könnten, Deutsche seien, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) kämen. Jede Präzisierung des Asylartikels aber müsse zu unerwünschten Beschränkungen der Aufnahme von „Sowjetzonenflüchtlingen“ führen, die seit 1945 zu Hunderttausenden in die Westzonen gelangt waren. Die offene Formulierung des Asylrechts bildete mithin ein Ergebnis der Auseinandersetzungen um die innerdeutsche Migration.

Das Grundgesetz legte auch fest, wer „Deutscher“ ist. Artikel 116, Absatz 1 stellte die Millionen „Volksdeutschen“, die seit Ende 1944 von außerhalb des Deutschen Reiches in den Westen geflohen oder vertrieben worden waren, den deutschen Staatsangehörigen gleich. Eine zukunftsgerichtete Perspektive gewann diese Regelung mit dem Bundesvertriebenengesetz von 1953: Menschen, die nach dem Ende von Flucht und Vertreibung aus Osteuropa in die Bundesrepublik kamen und eine deutsche Herkunft (als „deutsche Volkszugehörige“) nachweisen konnten, wurden seither als „Aussiedler“ und als deutsche Staatsangehörige anerkannt. Sie waren aus Sicht der bundesdeutschen Gesetzgebung mit Flüchtlingen und Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit gleichzusetzen und galten als deren „Nachzügler“.

Damit wurde Bezug darauf genommen, dass nicht alle Deutschen geflohen oder vertrieben worden waren, denn 1950 lebten nach Angaben bundesdeutscher Stellen noch rund vier Millionen Deutsche in Osteuropa. Hierzu zählten beispielsweise Personen, die in der Nachkriegszeit als für weiterhin wichtig erachtete Arbeitskräfte nicht ausreisen durften.

Espelkamp 1957: Auf dem Gelände einer 1938 errichteten Munitionsfabrik entstanden Baracken für deutschstämmige Vertriebene und Geflüchtete, die als sogenannte Aussiedler die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Verglichen mit anderen Gruppen waren diese Vertriebenen privilegiert. Im Nachkriegsdeutschland entstanden zahlreiche solcher Vertriebenenstädte. Das Bild ist Teil eines Beitrags von Jochen Oltmer über Migration ab 1945 im ersten Nachkriegsjahrzehnt in Deutschland.
Espelkamp 1957: Auf dem Gelände einer 1938 errichteten Munitionsfabrik entstanden Baracken für deutschstämmige Vertriebene und Geflüchtete, die als sogenannte Aussiedler die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Verglichen mit anderen Gruppen waren diese Vertriebenen privilegiert. Im Nachkriegsdeutschland entstanden zahlreiche solcher Vertriebenenstädte.

Auch hatte nicht jeder osteuropäische Staat die deutsche Minderheit nach dem Ende des Krieges vertrieben. Das galt insbesondere für die Sowjetunion und Rumänien. Ihre Aufnahme sollte eine Wiedergutmachung leisten, trage doch die Bundesrepublik ihnen gegenüber wegen ihres „Kriegsfolgenschicksals“ eine Verantwortung. Diese sei durch eine großzügige Aufnahmepraxis und vielfältige Leistungen zur Förderung der Teilhabe (deutsche Staatsangehörigkeit, Sprachkurse, finanzielle Unterstützung) einzulösen. Insgesamt rund 4,5 Millionen Menschen reisten bis heute mit einem Aussiedlerstatus in die Bundesrepublik ein.

Und auch die Planungen für die Anwerbung aus dem Ausland kommender Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft („Gastarbeiter“) begannen bereits Anfang der 1950er Jahre. Erstes Ergebnis war der 1955 abgeschlossene Anwerbevertrag mit Italien. Er leitete die millionenfache Zuwanderung von Arbeitsmigranten und -Migrantinnen in der Bundesrepublik ein. Sie dauerte bis zum Anwerbestopp 1973 und mündete in einen Einwanderungsprozess, der die bundesdeutsche Gesellschaft der Gegenwart ebenso prägt wie die Migration von Menschen, die mit dem Status als Aussiedler oder als Asylsuchende einwanderten.

Schließlich wurden in der Nachkriegszeit selbst für die umfangreiche Einwanderung von „Unionsbürgernn“ in die Bundesrepublik die Grundlagen gelegt: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl bot Arbeitskräften in der Montanindustrie 1952 die Freizügigkeit. Die Römischen Verträge von 1957, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schufen, dehnten sie auf alle Beschäftigten der Vertragsstaaten aus.

×

Conclusio

Ignoriertes Erbe. Die Millionen Geflüchteter, Vertriebener, Displaced Persons und aus verschiedenen Gründen heimatlos Gewordenen wurden als Störung und Konkurrenz wahrgenommen, nicht wenige Deutsche führten den Rassismus der NS-Diktatur fort. Eine Auseinandersetzung mit dem Regime, das durch Vernichtungskrieg, Zwangsarbeit und Rassismus und Antisemitismus zu der millionenfachen Migration geführt hatte, fand offenbar nicht statt.

Erzwungene Konfrontation. Deutschsprachige Bevölkerungsgruppen aus den von Vernichtungskrieg und deutscher Besatzung betroffenen osteuropäischen Gebieten erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft – zum Teil als Geste der Wiedergutmachung. Wirtschaftliche Notwendigkeiten führten relativ schnell zur Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern. Eine Gelegenheit, die Ereignisse und Handlungen der NS-Zeit aufzuarbeiten wurde auch darin nicht gesehen.

Mehr über Migration

Mehr im Newsletter