Umfrage: Österreich, das ewige Opfer?

28 Prozent sehen sich als das erste Opfer von Nazi-Deutschland. 40 Prozent wollen einen Schlussstrich ziehen. Eine Umfrage in Österreich zum NS-Erbe.

12. März 1938: Die deutsche Wehrmacht trifft in Wien ein. Soldaten stehen auf der Ladefläche eines Lieferwagens und strecken die Hände lachend hinunter zu einer Gruppe von Menschen, die mit Hakenkreuzfahnen in der Hand die Soldaten begrüßt. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
12. März 1938: Die deutsche Wehrmacht trifft in Wien ein. In dieser Umfrage sagen insgesamt 28 Prozent, Österreich sei das erste Opfer gewesen. © Getty Images

Bis Österreich begann, sich mit seiner NS-Vergangenheit ernsthaft auseinanderzusetzen, vergingen einige Jahrzehnte. Wie diese Umfrage zeigt, war diese Auseinandersetzung auch erfolgreich. Der Nationalsozialismus wird kritischer gesehen als noch 1987, als lediglich 15 Prozent diesem nur schlechte Seiten bescheinigten. Was sich allerdings hartnäckig hält, ist die Vorstellung, Österreich sei das erste Opfer von NS-Deutschland gewesen.

Für diese Umfrage wurden im Februar 2025 800 Österreicher und Österreicherinnen zu ihren Einstellungen zur Rolle Österreichs im Nationalsozialismus durch Unique Research online befragt. Sie haben die Möglichkeit, einige Ergebnisse nach Alter und Parteienpräferenz zu filtern – die Antworten unterscheiden sich teilweise erheblich.

1. Das Wissen über den Holocaust

In Wien in der Babenbergerstraße im März 1938. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Andrang in der Babenbergerstraße in Wien anlässlich der „Siegesparade“ Hitlers 1938. © Getty Images

Rund 500.000 Österreicher waren Mitglied der NSDAP. Österreicher arbeiteten aktiv und oft hauptverantwortlich an der Vernichtung der europäischen Juden, der Verfolgung, Internierung und Ermordung von Sinti und Romni, von politischen Gegnern, von Menschen mit abweichenden Lebensentwürfen, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderungen und den Gewaltverbrechen der deutschen Besatzung. Oft stellte sich das offizielle Österreich schützend vor verurteilte Kriegsverbrecher wie etwa den SS-Mann Walter Reder.

Der Holocaust ist der überwiegenden Mehrheit bekannt, dennoch nimmt immer noch ein Teil der Befragten an, die Massenvernichtung sei nicht erwiesen. Holocaust-Leugnung spielt generell heute eine geringere Rolle als noch vor einigen Jahrzehnten. Heute sind geschichtsrevisionistische Denkfiguren an die Stelle der Leugnung getreten. Typisch für den neurechten Diskurs ist die Kritik an Moralisierung und an Cancel Culture.

2. Die Opferthese

Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Glen Richter, Rose Thering und Avi Weiß bei ihrer Ankunft am Flughafen Schwechat am 3. Juni 1986. Sie traten anlässlich der Angelobung von Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten in den Hungerstreik. Das Foto, das sie halten, zeigt Kurt Waldheim als Wehrmachtsoffizier (2. von links) 1943 in Podgoriza im heutigen Montenegro. © Getty Images

Der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung wird heute im allgemeinen auf die Proteste gegen die Präsidentschaftskandidatur von Kurt Waldheim 1986 datiert. Die so genannte Waldheim-Affäre führte nach vielen Jahren der Auseinandersetzung dazu, dass der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 offiziell eine Mitverantwortung Österreichs für die NS-Verbrechen anerkannte.

Die „Opferthese“ gilt als Geschichtslüge. 1986 hatte die ÖVP Kurt Waldheim als ihren Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl nominiert. Waldheim verschwieg seine Vergangenheit als Offizier der nationalsozialistischen Wehrmacht und sein Wissen von Kriegsverbrechen auf dem Balkan.

Demonstration gegen Kurt Waldheim im Februar 1988 vor dem Burgtheater in Wien. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Demonstration gegen Kurt Waldheim im Februar 1988 vor dem Burgtheater in Wien. © Getty Images

Die Opferthese findet insbesondere bei FPÖ-Anhängern Unterstützung. 44 Prozent der FPÖ-Wähler sehen Österreich als erstes Opfer.

Die besondere Verantwortung Österreichs im Kampf gegen Antisemitismus wird scheinbar im Widerspruch zu der von einigen Befragten vertretenen Opferthese durchaus gesehen. Eine Mehrheit sieht Österreich in der Verantwortung.

3. Der Wunsch nach dem Schlussstrich

Wien 1938: Faschismus als Volksfest. Ein Kind mit zwei Hakenkreuzfähnchen in der Hand blickt auf den Schultern seines (mutmaßlichen) Vaters sitzend in die Kamera.Es ist umringt von fröhlichen Menschen und trägt eine Art volkstümlichen Lodenhut. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Wien 1938: Faschismus als Volksfest. © Getty Images

In der Waldheim-Affäre reagierten viele mit Abwehr. Waldheim selbst ließ „Jetzt erst recht“ plakatieren, es war die Rede von einer „Schmutzkübelkampagne“. Die zivilgesellschaftlichen Proteste ermöglichten letztlich erstmals nicht nur ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch Restitution und Entschädigungen.

Auch wenn eine Mehrheit die Auseinandersetzung noch nicht für abgeschlossen hält, werden Unterschiede deutlich, sobald die Ergebnisse nach Parteienpräferenz gefiltert werden. Bei Anhängern der FPÖ, die die Mehrheit der Befragten dieser Umfrage stellen, ist der Wunsch nach einem Schlussstrich am ausgeprägtesten.

4. Das Verbotsgesetz

NS-Merchandise vor der Rede Adolf Hitlers auf dem Heldenplatz in Wien im März 1938. Auf einer ausgestreckten Hand sind Anstecker mit Hakenkreuzen zu sehen. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
NS-Merchandise vor der Rede Adolf Hitlers auf dem Heldenplatz in Wien im März 1938. Diese Anstecker fallen unter das Verbotsgesetz. © Getty Images

Das sogenannte Verbotsgesetz trat bereits 1945 in Kraft, wurde 1947 novelliert und steht in Österreich im Verfassungsrang. Es verbietet nicht nur die NSDAP, sondern auch nationalsozialistische Symbole und immaterielle Güter wie etwa Lieder. Die Mehrheit derjenigen, die das Verbotsgesetz für überlebt halten sind Anhänger der FPÖ.

Auch jüngere Altersklassen in dieser Umfrage sind mehrheitlich der Meinung, dass das Verbotsgesetz weiterhin richtig und notwendig ist und Äußerungen der Art nicht unter die Meinungsfreiheit fallen sollen.

5. Übertreibung?

Wien am 11. August 1938: Juden werden gezwungen, die Straßen zu schrubben. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Wien am 11. August 1938: Die jüdische Bevölkerung wird gezwungen, die Straßen zu schrubben. © Getty Images

Die Ergebnisse in Bezug auf die Frage, ob die Verbrechen des Nationalsozialismus übertrieben dargestellt werden, korrespondieren mit den Ergebnissen zu den Fragen nach einem Schlussstrich und der Einstellung gegenüber dem Verbotsgesetz.

Wien im Mai 1939. Ein Mann mit weißen Strümpfen und Hakenkreuzarmbinde geht an einem Geschäft vorbei, das offensichtlich geschlossen ist. Die Fensterscheibe ist mit dem Wort Jude beschmiert. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Wien im Mai 1939. © Getty Images

Die Bewertung der NS-Zeit fällt je nach Parteienpräferenz unterschiedlich aua. Eine Überraschung ist dies nicht. So hatte Jörg Haider von der „ordentlichen Beschäftigungspolitik“ im Nationalsozialismus gesprochen. Aussagen wie diese sind ein Indikator für den steten Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Proteste dagegen wurden auch 1991 bereits als Überempfindlichkeit etikettiert. Was Haider als Beschäftigungspolitik beschrieb, war Zwangsarbeit.

Dass die Bemerkung von der ordentlichen Beschäftigungspolitik ausgerechnet in das Jahr 1991 fällt, ist angesichts der Auseinandersetzungen um Waldheim in den Jahren zuvor und um die darauf folgende erstmalige offizielle Anerkennung der Verantwortung Österreichs vielleicht nicht verwunderlich.

Im KZ Ebensee am 7. oder 8. Mai 1945. Ebensee war ein Nebenlager des KZ Mauthausen. Die Häftlinge, unter ihnen viele Kriegsgefangene, mussten Zwangsarbeit leisten. Sie hungerten und wurden sadistisch gefoltert. Auf dem Bild ist ein abgemagerter Mann zu sehen, der auf dem Boden sitzt. Das Bild ist Teil der Illustration einer Umfrage zum Nationalsozialismus in Österreich. Unter anderem wird darin danach gefragt, ob sich die Österreicher als 1. Opfer von NS-Deutschland sehen. Diese sogenannte Opferdoktrin prägte lang das Selbstverständnis der Österreicher.
Im KZ Ebensee am 7. oder 8. Mai 1945. Ebensee war ein Nebenlager des KZ Mauthausen. Die Häftlinge, unter ihnen viele Kriegsgefangene, mussten Zwangsarbeit leisten. Sie hungerten und wurden sadistisch gefoltert. © Getty Images

Tatsächlich begann sich nach Waldheim die öffentliche Meinung zu ändern: 1987 waren nur 15 Prozent der Meinung, der Nationalsozialismus habe nur schlechte Seiten gehabt. Heute sind es 33 Prozent. Allerdings hat auch der Anteil derjenigen, die sich dazu nicht äußern können oder wollen zugenommen. 15 Prozent finden, der Nationalsozialismus habe sowohl gute als auch schlechte Seiten.

Eine Mehrheit befürchtet, dass es in Österreich erneut zu Faschismus kommen könnte, eine Wiederholung des Nationalsozialismus halten viele zumindest für möglich. Auf legislativer Ebene wäre der autoritäre Umbau tatsächlich leichter möglich als viele glauben.

6. Einstellung zur israelischen Politik

Der Krieg der israelischen Regierung gegen die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen und im Westjordanland polarisiert. Gefragt, ob sich diese Politik mit jener des nationalsozialistischen Deutschlands gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in allen von Deutschland besetzten Gebieten vergleichen lasse, möchten viele keine Angabe machen (oder können nicht). Auf volle Zustimmung trifft die These bei zehn Prozent der Befragten; auf volle Ablehnung bei 14 Prozent. Jeweils 37 Prozent bejahen diese Frage sehr oder eher beziehungsweise lehne sie sehr oder eher ab.