Free speech? No, we are British!
Die öffentliche Sicherheit bröckelt, und der Staat verfolgt Kritiker der Zustände oft härter als Straftäter. England hat seinen Ruf als Hort der Meinungsfreiheit verspielt.

Auf den Punkt gebracht
- Staatsgewalt. Überschießende polizeiliche Maßnahmen und die strafrechtliche Verfolgung harmloser Internet-Posts beschränken die Meinungsfreiheit.
- Vorbestraft. Selbst wenn kein Gesetz gebrochen wurde, kann ein Verhör durch die Polizei wegen eines „Hassvorfalls“ im Vorstrafenregister landen.
- Autoritarismus. Der Staat tritt ungeniert als moralische Zensuranstalt auf, als eine Art Erziehungsamt, das falsches Denken korrigieren soll.
- Wahrheit. Um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, sind aufwieglerische und verhetzende Äußerungen verboten. Selbst dann, wenn sie wahr sind.
Pakistanische Vergewaltigerbanden und Messerstecher, gewalttätige Ausschreitungen wütender Bürger und eine Polizei, die bei Gewaltaufrufen auf Massendemonstrationen hilflos zusieht, dafür aber Hausfrauen für Internetposts verhaftet. Dazu kommen Wirtschaftsflaute, Haushaltsprobleme und ein verbockter Brexit. Obendrein rührt Elon Musk auf X ordentlich um.
Mehr zur Meinungsfreiheit
Es gäbe also einiges zu bereden in Großbritannien. Aber gerade für die Meinungsfreiheit sieht es in dem Inselstaat gerade düster aus. Das illustriert eine Reihe peinlicher Fälle der jüngeren Geschichte.
Ein übergriffiger Staat
Chelsea Russell wurde zu Ausgangssperre samt Fußfessel verurteilt, weil sie einen Liedtext des Rappers Snap Dogg auf Instagram gestellt hatte, in dem – durchaus genreüblich – das Wort „Nigga“ vorkommt. Snap Dogg selbst haben die britischen Behörden nicht belangt.
Der als Count Dankula bekannte YouTuber Mark Meechan wiederum wurde verhaftet, weil er in einem Video-Sketch dem Hund seiner Freundin den Hitlergruß beibrachte. Könnte man eigentlich für ganz lustig halten. Man fragt sich, wann die Briten, die bisher als Großmeister des Nazi-Witzes gegolten hatten, ihren Sinn für Humor verloren haben.
Kate Scottow hingegen wurde frühmorgens vor ihren Kindern von einem Polizeitrupp verhaftet und später verurteilt, weil sie online jemanden mit dem falschen Geschlecht angesprochen hat. Auch die Feministinnen Maya Forstater und Julie Bindel wurden von der Polizei drangsaliert, weil sie online durchblicken ließen, dass man ihrer Meinung nach sein biologisches Geschlecht nicht ändern könne.
Im Jänner wurden Maxie Allen und Rosalind Levine von sechs Polizeibeamten vor ihren Kindern verhaftet, verhört und elf Stunden festgehalten, weil sie sich in einer WhatsApp-Gruppe über die Schulleitung beschwert hatten.
Bestrafe einen, erziehe hundert
Solche behördlichen Übergriffe würde man sich heutzutage eher im endgültig durchgeknallten Deutschland erwarten, aber im als grundvernünftig und liberal geltenden Großbritannien, dem Mutterland von John Milton, John Locke und John Stuart Mill, muss die behördliche Verfolgung „falscher“ Meinungen überraschen.
Wer glaubt, dass etablierte Journalisten vor der aggressiven Neugier der Behörden sicher sind, der irrt: Im November 2024 klopfte die Polizei an die Türe von Alison Pearson, einer Journalistin des renommierten Daily Telegraph, weil sie in einem längst gelöschten Tweet Demonstranten einer Pro-Palästina-Demo „Judenhasser“ genannt hatte.
Zwar kam es in manchen der genannten Fälle zu keiner Anzeige, oder die Verurteilung wurde von einer höheren Instanz aufgehoben. Aber das ist kein Trost. Schon die Aussicht auf Polizeibesuch daheim macht wenig Lust auf freie Rede. Offenbar gilt die Devise: Verhöre einen, schüchtere hundert andere ein.
Zahlen & Fakten
Das Pendel schlägt zurück
Kulturkampf. In den USA werden Bücher, in denen es um Rassismus, Sexualität und Geschlechtsidentität geht, aus Schulen, Bibliotheken und Universitäten verbannt. Der Schriftstellerverband PEN America nennt 10.046 solcher Fälle für das Schuljahr 2023/24, mehr als 80 Prozent davon entfielen auf die Bundesstaaten Florida und Iowa. Mit Themen wie Drogenmissbrauch, Selbstmord, Depressionen oder sexueller Gewalt sollen junge Menschen literarisch nicht konfrontiert werden, obwohl sie ihnen im wirklichen Leben sehr wohl begegnen. Die Regierung weist die Zensurvorwürfe zurück, es würden nur „in Absprache mit Eltern und Interessengruppen in den Gemeinden Verfahren eingeführt, um altersunangemessene Materialien zu bewerten und zu entfernen“.
Homophobie. Auch in Ungarn beruft man sich beim Verbot der Pride Parade auf den Jugendschutz: Seit 15. April ist es verboten, „Personen unter achtzehn Jahren pornografische Inhalte oder Inhalte zugänglich zu machen, die Sexualität zu eigenen Zwecken darstellen oder Abweichungen von der Identität des Geburtsgeschlechts, eine Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität fördern oder darstellen“. Wenn Grund zur Annahme besteht, dass die Durchführung einer unter diesem Titel verbotenen Versammlung beabsichtigt ist, hat die Versammlungsbehörde diese zu untersagen.
Die Polizei befasst sich nicht nur mit Leuten, die sie des Rechtsbruchs verdächtigt, sondern sie untersucht auch massenweise sogenannte Hassvorfälle, bei denen überhaupt kein Rechtsbruch im Raum steht. Über 250.000 solcher „nicht-strafbarer Hassvorfälle“ hat die Polizei bisher aufgenommen. Für gewöhnlich klopfen die Detectives an die Türe und beginnen ein Verhör – obwohl niemand behauptet hat, dass irgendein Gesetz gebrochen wurde. Im Vorstrafenregister kann dieser Besuch trotzdem landen. Rechtsgrundlage? Von der Polizeiakademie im Jahr 2014 herausgegebene polizeiliche Einsatzleitlinien und ein nicht rechtsverbindlicher gesetzlicher Verhaltenskodex aus dem Jahr 2023. Im Vereinigten Königreich geht das. George Orwell lässt grüßen.
Weg mit unerwünschten Gedanken
Die Polizei handelt hier also nicht in Durchsetzung von Verbotsnormen, sondern mit der Absicht, erlaubte, aber irgendwie unerwünschte Ideen und Gedanken aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Vom liberalen Modell des Staates als Ordnungsapparat, der erst dann einschreitet, wenn Zwang notwendig wird, ist man bereits meilenweit entfernt. Der Staat tritt ganz ungeniert als moralische Zensuranstalt auf, als eine Art Erziehungsamt, das falsches Denken korrigieren soll. Vor allem in Bezug auf solche nicht-strafbaren Hassvorfälle ist das Vereinigte Königreich tief ins Territorium des Autoritarismus abgerutscht. Man fragt sich also, woher der Ruf der Briten als große Verfechter der Freiheit überhaupt kommt.
Der Staat tritt ganz ungeniert als moralische Zensuranstalt auf, als eine Art Erziehungsamt, das falsches Denken korrigieren soll.
Für eine Erklärung muss man ins Jahr 1695 zurückgehen, als das Parlament den Licensing Act, also das Druckerlaubnisgesetz, ohne Ersatz auslaufen ließ. Bücher und Pamphlete konnten von nun an ohne vorherige behördliche Durchsicht und Genehmigung veröffentlicht werden. Die meisten anderen europäischen Länder brauchten bis ins späte 19. Jahrhundert, um sich eine unlizenzierte Presse zuzutrauen, und in Deutschland lebte nach dem Zweiten Weltkrieg die Lizenzpresse aus Sorge um die ideologische Lauterkeit der Deutschen sogar wieder auf.
Diese frühe Aufhebung der Vorzensur in Großbritannien führte tatsächlich zu einem nachhaltigen Schub von Publikationsvolumen und Kreativität und verlieh dem Land damit den bis heute andauernden Ruf der Liberalität. Um Meinungsfreiheit im amerikanischen Sinne handelte es sich bei dieser Maßnahme freilich nicht. Das war auch nicht der Plan. Vielmehr sollte eine umständliche und volkswirtschaftlich schädliche Vorzensur durch eine effektive Nachzensur ersetzt werden.
Insbesondere in Bezug auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gab es bis ins späte 20. Jahrhundert den Tatbestand der „seditious libel“, der aufrührerischen Verleumdung, die das Staatsoberhaupt und die Organe des Staates vor Beleidigung und den Staat vor jede Form der Destabilisierung schützen sollte. Bemerkenswert dabei ist, dass im Gegensatz zur gewöhnlichen Verleumdung der Wahrheitsbeweis bei aufrührerischer Verleumdung nicht zulässig war.
Die Wahrheit wird geopfert
Die modernen Gesetze gegen Hassrede, die seit den 1960er-Jahren sukzessive ausgebaut wurden, folgen derselben Logik. Auch bei Hassrede und Verhetzung schützt die Wahrheit des Gesagten nicht vor Strafe: Wenn man mit verhetzender Absicht behauptet, dass Muhammad nach unserem heutigen Rechtsverständnis ein Kinderschänder war, dann ist es unerheblich, ob der Vorwurf zutrifft oder nicht. Im englischen Recht gab es dazu den griffigen Spruch „The greater the truth, the greater the libel“: je größer die Wahrheit, desto größer die Ehrverletzung.
Die Logik dahinter ist ebenso schlüssig wie teuflisch: Um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, verbietet der Gesetzgeber aufwieglerische oder verhetzende Äußerungen. Wahre Äußerungen sind aber weitaus gefährlicher für die öffentliche Ordnung, denn sie können nicht widerlegt werden!
Es geht also bei der Einschränkung von sogenannter Hassrede gar nicht um die Frage, was wahr ist, es geht im Grunde nicht einmal um Meinungen. Es geht einzig und allein um Ruhe und Ordnung. Je dünnhäutiger und explosiver eine Gruppe also auf die Äußerungen anderer zu reagieren geneigt ist, desto bedrohter ist damit die Ordnung, und desto weniger darf gegen sie gesagt werden. Je vernünftiger und erwachsener eine Gruppe auf die Anwürfe der anderen reagiert, desto weiter dürfen diese in ihren Anwürfen gehen. Ein Rezept für absolutes Chaos.
Die dunkle Seite
Die ganze Geschichte hat aber noch eine weitaus dunklere Seite, wie ein Blick auf einen der größten Justizskandale der jüngeren britischen Geschichte zeigt: Vorwiegend weiße Mädchen, teilweise erst elf Jahre alt, waren zwischen 1997 und 2013 im County Rotherham in Mittelengland systematischen Massenvergewaltigungen durch pakistanische Banden ausgesetzt, während die Täter von den Behörden geschützt wurden, weil schon das bloße Ansprechen dieser Verbrechen als rassistisch gelten kann.
Im Jahr 2014 versuchte der Jay Report, einen kleinen Teil dieser Verbrechen aufzuarbeiten, und berichtete neben anderen Abscheulichkeiten von dem Fall eines zwölfjährigen Mädchens, das nach der Flucht vor ihren Peinigern von der Polizei wegen Trunkenheit belangt wurde, während die Täter komplett unbehelligt gelassen wurden. Für die Polizei galten die Kinder schlicht als „promiskuitiv“.
Auch ein Vater, der versucht hatte, seine Tochter aus den Fängen der Vergewaltiger zu befreien, wurde von der Polizei deshalb verhaftet. Als einen wesentlichen Grund für dieses Behörden- und Staatsversagen nannte der Bericht die Furcht der handelnden Beamten, als rassistisch zu gelten. Deshalb unterdrückten sie die Wahrheit und versagten den Opfern ihre Unterstützung. Für die Opfer der unsäglichen Gewalt wäre die Wahrheit aber bitter notwendig gewesen, auch wenn diese von einigen als rassistisch oder „grob ungehörig“ angesehen worden und daher streng genommen verboten gewesen wäre.
Die Lage in Großbritannien ist brenzlig. Das liegt nicht allein an der derzeitigen Regierung; der Skandal in Rotherham fand teilweise unter konservativen Regierungen statt. Genauso die Einführung der katastrophalen Online Safety Bill 2023, die noch viel weiter geht als die Verordnung über digitale Dienste der EU. Denn während das EU-Gesetz die Plattformbetreiber in die Pflicht nimmt, gesetzwidrige Inhalte zu entfernen, verbietet das britische Gesetz dem Verfasser die Veröffentlichung „legaler, aber schädlicher“ Inhalte. Die freie Meinungsäußerung kann damit schnell zur Straftat werden.
Conclusio
Hate-Speech. Großbritannien opfert die Meinungsfreiheit zu Gunsten der öffentlichen Ordnung. Über 250.000 angebliche „Hassvorfälle“ haben die Behörden schon verfolgt. Die freie Meinungsäußerung ist gefährlich geworden.
Minderheiten. Vor allem negative Äußerungen über als schützenswert geltende Gruppen können jederzeit die Polizei auf den Plan rufen, und zwar auch dann (oder sogar besonders dann), wenn die Aussagen der Wahrheit entsprechen.
Redefreiheit. Großbritannien galt lange als Musterland des Liberalismus. Doch dieser Ruf ist zerstört. Die Einschränkungen gehen viel weiter als entsprechende Regelungen in der EU. Die Politik sollte einen anderen Weg einschlagen.