Das Comeback der Zensur

Im Prinzip kann man in den westlichen Demokratien sagen, was man will. Aber die Konsequenzen sind oft dermaßen schmerzlich, dass das Recht auf freie Rede in Europa zunehmend gefährdet ist. Über die neue Lust an der Zensur und deren fatale Folgen für die Demokratie.

Das Bild zeigt zwei Sprechblasen auf einem blauen Hintergrund, die von Stacheldraht durchzogen sind. Die Sprechblasen sind weiß und symbolisieren Kommunikation oder Meinungsäußerung. Der rote Stacheldraht steht für Einschränkungen der Meinungsfreiheit bzw. das Comeback der Zensur.
Es gibt keine halbe Meinungsfreiheit. Sobald jede Meinungsäußerung der Kontrolle unterliegt, erodiert die Demokratie.  © Jens Bonnke

Für manche sind Online-Plattformen wie Facebook, X und Instagram der Inbegriff der Meinungsfreiheit, andere sehen darin Propagandaschleudern, die mit „Hassrede“ und „Desinformation“ die Bevölkerung spalten. Müssen die sozialen Medien stärker reguliert werden, oder ist das Recht auf freie Rede jetzt schon zu sehr eingeschränkt? 

Mit der Kritik von US-Vizepräsident J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar bekam diese Frage auch eine geopolitische Dimension. „In Großbritannien und in ganz Europa ist die Redefreiheit, fürchte ich, auf dem Rückzug“, hatte Vance postuliert und die Wahrung demokratischer Grundwerte unverhohlen zur Bedingung für den militärischen Schutz der USA gemacht: „Wenn Sie Angst vor Ihren eigenen Wählern haben, gibt es nichts, was Amerika für Sie tun kann.“ Vance mag der Falsche sein, um Europa zu belehren; auch die US-Regierung geht mit Kritikern und Gegnern nicht eben freundlich um. Einen wunden Punkt getroffen hat der amerikanische Politiker wohl trotzdem. Ganz so frei von Zensur, wie Demokratien sein sollten, sind viele Länder in Europa längst nicht mehr. 

Deutschland: Ja zum Wahrheitsministerium 

Deutschlands neue Regierungskoalition scheut sich jedenfalls nicht davor, zu bestimmen, was wahr und was falsch ist: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können“, steht auf Seite 123 des Koalitionsvertrags. 

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Zahlen & Fakten

Europa reguliert das Internet

Strafandrohung. Der Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union will nicht nur die Verbreitung rechtswidriger Inhalte verhindern. Große Plattformen wie Meta, Google oder X müssen auch Maßnahmen gegen tatsächliche oder absehbare gesellschaftsschädliche Auswirkungen ihrer Algorithmen setzen. Bei Nichteinhaltung drohen Geldbußen in Höhe von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes.

Denunziantentum. Zur Durchsetzung des DSA werden in jedem Land staatlich verifizierte „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ (Trusted Flaggers) eingerichtet (Art. 22). Die nationale Koordinierungsbehörde (Bundesnetzagentur in Deutschland, KommAustria in Österreich) entscheidet über die Anerkennung. Hinweise dieser Meldestellen werden von den Betreibern „vorrangig behandelt und unverzüglich bearbeitet und einer Entscheidung zugeführt“. In Österreich gibt es davon fünf: die Arbeiterkammer, die Internet Ombudsstelle, Rat auf Draht, den Schutzverband für unlauteren Wettbewerb sowie die LSG – Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten GmbH. In Deutschland ist bisher nur die Meldestelle REspect! zugelassen.

Löschungen. In Deutschland führte der Vorläufer des DSA, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) von 2017, dazu, dass Plattformen häufiger auch rechtlich zulässige Inhalte löschten oder deren Reichweite einschränkten, um Bußgelder zu vermeiden. Der DSA erweitert diesen Ansatz europaweit, was Ängste vor einem ähnlichen Effekt schürt.

Ganz abgesehen davon, dass im Bundestag gähnende Leere herrschen würde, wenn das Verbot von Lügen auch außerhalb des Internets gälte: Das ist nahe an der Errichtung eines Wahrheitsministeriums, wie es George Orwell im Roman 1984 beschrieben hat. Dass kürzlich ein Journalist (nicht rechtskräftig) wegen eines satirischen Internet-Memes über Innenministerin Nancy Faeser bedingt zu sieben Monaten Haft verurteilt wurde, stärkt auch nicht gerade das Vertrauen in die Resilienz Deutschlands gegenüber autoritären Anwandlungen. Zudem kann die Desinformation von heute die Wahrheit von morgen sein.

2020 galt die Behauptung, Covid-19 sei aus einem Labor in Wuhan entwichen, als Verschwörungstheorie. Wer sie äußerte, wurde von Facebook und Twitter gesperrt oder in seiner Reichweite beschränkt. Heute wird diese Theorie in wissenschaftlichen Publikationen diskutiert, vielen gilt sie als wahrscheinlichste Erklärung.

Eine Zensur findet nicht statt: Als dieser Satz ins deutsche Grundgesetz geschrieben wurde, gab es das Internet noch nicht. Ungemach durch ungefilterte Unmutsäußerungen unzufriedener Bürger drohte dem Staat höchstens durch Versammlungen oder die Verbreitung von Flugblättern.

Heute ist nichts mehr, wie es damals war. Wachten früher die Chefredakteure von Zeitungen und Radiostationen als „Gatekeeper“ über Inhalt und Qualität der veröffentlichten Meinung, entscheidet in der neuen Medienwelt mehr denn je allein das Publikum über die Wirkungsmacht der verbreiteten Botschaft. Die Torwächter haben ausgedient. Nun ja, nicht ganz. Denn mehr Freiheit des Einzelnen geht zwangsläufig mit einem Kontrollverlust des Staates einher. Kein Wunder also, dass Europas Regierungen nach mehr Regulierung des ungezügelten Meinungswildwuchses rufen. Je paternalistischer der Staat, desto lauter der Ruf.  

Mit Gesetzen gegen „Hate Speech“ und „Fake News“ will die EU die Betreiber der großen Plattformen dazu zwingen, die Verbreitung von Beiträgen einzuschränken, die sie für schädlich hält. Und tatsächlich ist man auf allen Plattformen nicht nur mit haarsträubendem Unsinn konfrontiert, sondern auch mit exzessiven Schmähungen. Auf den ersten Blick ist die Forderung der Politik also verständlich. Sieht man genauer hin, bewegt man sich mit jeder Art von Zensur jedoch auf einem schmalen Grat. 

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Zahlen & Fakten

Gelöschte Inhalte, gesperrte Accounts

Erlaubt ist, was nicht verboten wurde: Dieser Grundsatz galt lange als Basis des Rechtsstaats. Die vage definierten Begriffe des Digital Services Acts (DSA) der EU weichen dieses Prinzip auf. Wer definiert zum Beispiel, was „systemische Risiken“ sind, die „absehbare nachteilige Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte und auf Wahlprozesse“ haben? Allein die Höhe der Strafandrohung sorgt dafür, dass Plattformen von Meldestellen oder mehreren Nutzern gemeldete Beiträge lieber löschen, als ein Risiko einzugehen.

Auch X, das sich seit der Übernahme durch Elon Musk zu einer sehr großzügigen Auslegung von freier Rede bekennt, löscht nach wie vor Accounts wegen Verletzungen der Gemeinschaftsregeln – manchmal auch nur temporär, darunter so prominente wie jenen von Kanye West. Oder die Beiträge werden mit „Shadowbanning“ belegt und damit in ihrer Reichweite gedrosselt. 

Der aktuelle Transparenzbericht von X gibt einen Einblick in die Dimension der Eingriffe: Im zweiten Halbjahr 2024 wurden fast 182 Millionen Meldungen von Nutzern bearbeitet. 4,2 Millionen Accounts wurden gesperrt, über 10 Millionen Posts entfernt oder mit Hinweisen versehen (Faktenchecks, Warnhinweisen oder Ähnlichem). Eine enorme Zahl, die jedoch nur 0,0178 Prozent aller Posts entspricht. 

Bei freier Rede droht Gefahr

Das Internet verkörpert sowohl den Inbegriff der freien Meinungsäußerung als auch deren Bedrohung, sei es durch staatliche Zensur oder private Plattformpolitik, durch gesellschaftlichen Druck oder technologische Manipulation. Oft entscheiden Algorithmen, welche Inhalte sichtbar bleiben und welche verschwinden, einander bestärkende Meinungen blasen sich gegenseitig zum Orkan auf, unerwünschte verschwinden irgendwo zwischen Content-Moderation und Nutzungsbedingungen. Zudem hat die Cancel Culture eine Atmosphäre kollektiver Empfindlichkeit geschaffen, in der abweichende Meinungen nicht nur kritisiert, sondern aktiv zum Schweigen gebracht werden. Wer sich gegen den Zeitgeist äußert, riskiert durch Empörungswellen öffentliche Ächtung bis hin zum Jobverlust. Während in autoritären Staaten die Meinungsfreiheit direkt von der Obrigkeit abgedreht wird, kommt der Angriff in den westlichen Demokratien auch aus der Mitte der Gesellschaft. 

Idi Amin, von 1971 bis 1979 Präsident von Uganda und einer der blutrünstigsten Herrscher seiner Zeit, antwortete auf die Frage, wie es um die Redefreiheit in seinem Land bestellt sei: „There is freedom of speech, but I cannot guarantee freedom after speech.“ (Es gibt die freie Rede, aber ich kann nicht für die Freiheit nach der Rede garantieren). Bei uns wird niemand an die Krokodile verfüttert, aber wenn ein einziger Tweet eine Karriere beenden kann, führt die Angst vor Konsequenzen unweigerlich zu Selbstzensur. 

Unabhängig davon, ob der Staat das Recht auf freie Rede selbst einschränkt, die Durchführung an private Unternehmen auslagert oder eine besonders lautstarke Gruppe alle anderen zum Schweigen bringt: Es gibt keine halbe Meinungsfreiheit. Sobald jede Meinungsäußerung der Kontrolle unterliegt, erodiert die Demokratie. 

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