Johannes und die Waldrappe

Waldrappe sind Zugvögel. Weil sie in Europa ausgestorben waren, wissen sie aber nicht mehr, wohin sie fliegen müssen. Der Biologe Johannes Fritz fliegt deshalb voraus.

Johannes Fritz mit seinem Fluggerät, die Waldrappe fliegen ihm nach.
Die Waldrappe müssen lernen, Johannes Fritz als ihren erfahrenen Artgenossen zu akzeptieren. © Gregor Kuntscher

Eigentlich wären alle bereit. Johannes Fritz sitzt im Fluggerät und die Vögel flattern schon herum. Wären da nicht die Kälber auf der Wiese, die als Startbahn dienen soll. Also müssen die beiden Volontäre Nini und Adam ausrücken und die leicht irritierten Tiere mit rudernden Armen verscheuchen. Nur ein paar Augenblicke später rattert es, über die Wiese poltert ein mit Propeller betriebener Ultraleichtflieger und hebt ab. Fritz ist in der Luft, der gelbe Paraschirm öffnet sich, die Kühe sind unbeeindruckt. Rund um das Fluggerät flattern 29 Waldrappe; gleich werden sie ihm folgen, wenn er über die idyllische Landschaft rund um den Tachinger See in Bayern fliegt.

Nach einem verregneten Sommer ist am heutigen Morgen im frühen August endlich Sonne; die Waldrappe sind motiviert und Johannes Fritz ist es auch. Das heutige Flugtraining geht weit über die vereinbarte Route hinaus. „Johannes fliegt weiter“, heißt es über Funk, das Waldrapp-Team versucht dem gelben Schirm am Himmel mit dem Auto zu folgen. Auf einer Wiese landet Fritz rund zwanzig Minuten später, die Vögel im Schlepptau. Das Waldrapp-Team ist in Hochstimmung.

Johannes Fritz im Interview
Es ist „schon ein bisschen ein wahnsinniges Projekt“, sagt Johannes Fritz. © Gregor Kuntscher

Vorher beim Frühstück im Camp erzählt der 58-jährige Biologe auf einer Holzbank sitzend, dass es ein schwieriges Jahr gewesen sei; eines von vielen schwierigen Jahren eigentlich. Das Camp, in dem das Team rund um Fritz seit einigen Wochen wohnt, besteht aus einem Zelt und einigen Wohnwägen, die hinter einem Bauernhof im bayrischen Taching am See stehen. Hier sollen die Waldrappe lernen, den fliegenden Biologen als ihren erfahrenen Artgenossen zu akzeptieren, um dann gemeinsam mit ihm nach Andalusien zu migrieren.

Ein Leben im Dienste der Waldrappe

Es ist, sagt Johannes Fritz und lacht, „schon ein bisschen ein wahnsinniges Projekt“. In einem Satz zusammengefasst könnte es lauten: Johannes Fritz will die in Europa lange ausgestorbenen Waldrappe wieder hier ansiedeln. Aber hinter diesem einen Satz verbirgt sich so viel mehr, ein Vierteljahrhundert im Dienst der Waldrappe.

Es begann Mitte der 1990er mit einer verrückten Idee, die ihn nicht mehr losließ und letzten Endes sein Leben auf den Kopf stellte. Gerade erst am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere, widmete sich der junge Biologe Johannes Fritz der Verhaltensforschung und arbeitete in Oberösterreich mit Graugänsen. An derselben Forschungsstelle gab es aber auch damals schon Waldrappe, die zu seiner eigentlichen Leidenschaft wurden. Waldrappe sind etwa gänsegroße, ehrlicherweise eher hässliche Vögel, die aber seit Jahrhunderten eine mythische Aura umgibt.

Ein junger Waldrapp auf einer Wiese
Sagenumwoben und schmackhaft: Der Waldrapp, hier ein vom Waldrapp-Team hochgezogener Jungvogel. © Waldrappteam

Im alten Ägypten galten sie als Glücksbringer, die den menschlichen Geist verkörpern. Muslime glauben, dass ein Waldrapp jener Vogel war, der Noah auf seiner Arche den Weg vom Berg Ararat ins Tal des Euphrat geleitet hat. In Europa war er hauptsächlich wegen seines schmackhaften Fleisches beliebt; vor rund 400 Jahren galt er dort bereits als ausgestorben und gerat in Vergessenheit. Pierer’s Universal Lexikon von 1864 behauptete gar, dass es den Waldrapp überhaupt nie gegeben hätte, er sei nur ein schlechter mittelalterlicher Scherz gewesen, nämlich „ein Exemplar der Steindrossel, an welches man einen Federbusch u. anderen Schnabel angesetzt hatte“. Lediglich in Marokko überlebten einige Kolonien all die Jahrhunderte.  

Einfach nur weg – aber wohin?

Deshalb wusste auch niemand das Phänomen zu deuten, mit dem sich die Biologen der oberösterreichischen Forschungsstelle herumschlagen mussten: Die Jungvögel, die aus Zoos stammten, „sind so um den zehnten August alle davongeflogen“, erzählt Fritz. In alle nur erdenklichen Richtungen. „Wir haben Sichtmeldungen aus Deutschland, den Niederlanden und Polen bekommen“, erzählt er.

Waldrappe in der Luft
Den Waldrappen steht ein weiter Weg nach Andalusien bevor. © Gregor Kuntscher

Als das im nächsten Jahr wieder passierte, war klar, „dass die Vögel trotz Generationen in Zoos noch eine Zugmotivation zeigen.“ Sie wussten, dass sie Zugvögel sind. Aber nicht, wohin sie fliegen müssen. Weshalb sie einfach in irgendeine Richtung losflogen. „Die Position des Wintergebietes wird bei diesen Vögeln als Tradition weitergegeben. Ein Vogel muss das einmal im Gefolge eines erfahrenen Artgenossen fliegen, damit er weiß, wo es hingeht“, erklärt Fritz, während rund um ihn herum mehr und mehr Mitglieder des Teams aus ihren Wohnwägen kommen, Kaffee aufsetzen und den Frühstückstisch anrichten.

Hollywood als Vorbild

Dass sie alle hier sitzen, haben sie einem Hollywood-Film zu verdanken: Amy und die Wildgänse. Der 1996 erschienene Film erzählt die Geschichte eines 13-jährigen Mädchens, das Kanadagänse aufzieht und ihnen mit einem Fluggerät den Weg in den Süden weist. Inspiriert war der Film vom kanadischen Biologen William Lishman, der in den frühen 1990ern genau das tat. „Das ist mir nicht aus dem Kopf gegangen“, erzählt Fritz. Im Jahr 2000 machte er den Flugschein, stellte ein Team zusammen und hatte den Plan, „meine wissenschaftliche Karriere für zwei, drei Jahre zu unterbrechen, um zu schauen, ob so etwas mit den Waldrappen geht.“

Johannes Fritz in seinem Fluggerät
Im Jahr 2000 hat Johannes Fritz den Flugschein gemacht, seitdem steht sein Leben im Zeichen der Waldrappe. © Gregor Kuntscher

Nun ist es 2025, Johannes Fritz fliegt Jahr um Jahr seine Waldrappe in den Süden „und meine akademische Karriere ist flöten gegangen.“ Es wirkt nicht so, als würde ihm das etwas ausmachen. Wenn die Waldrappe einmal wieder in Mitteleuropa heimisch sind, dann ist das weitgehend sein Verdienst – und eine beachtliche Lebensleistung. Ganz ohne Hilfe geht es natürlich nicht, bereits zwei Förderungen hat das Waldrapp-Team aus dem europäischen Life-Programm bekommen, „das ist vermutlich die größte und erfolgreichste Natur- und Artenschutz-Initiative weltweit“, erklärt Fritz.

Es ist 7:45, als sich alle Mitglieder des Camps zum Morgen-Briefing rund um den Frühstückstisch versammeln. Die einzigen, die fehlen, sind die Vögel. Die Waldrappe sind abgeschirmt von allen Menschen abseits zweier Ziehmütter genannten Bezugspersonen für die Vögel, die stets gelb gekleidet sind. Alle anderen Mitglieder des Camps arbeiten für die Tiere, aber nicht mit ihnen – schließlich sollen die Waldrappe ausgewildert und nicht an Menschen gewöhnt sein.

2.600 Kilometer bis Andalusien

„Guten Morgen“, sagt Fritz und blickt hinauf zur Sonne. In diesem Sommer ist sie ein ungewohnter Anblick. „Es wirkt fast künstlich.“ Zwei Wochen sind sie aufgrund des Regens hintennach mit dem Flugtraining; eigentlich hätten sie diese Woche schon aufbrechen wollen nach Andalusien. Jetzt wird aber zumindest eine Woche noch weitertrainiert. Heute sind es ein paar Kilometer, bis nach Andalusien dann ganze 2.600 Kilometer Luftlinie. Rund fünfzig Tage werden sie unterwegs sein, weil sie auch während der Migration auf gutes Flugwetter angewiesen sind. Und auf der Straße zieht das ganze Camp mit, es wird für jeden Flugtag ab- und am Zielort wieder aufgebaut. Waldrappe zu migrieren ist eine kolossale Aufgabe und sie wird immer mühsamer.

Johannes Fritz und die Waldrappe auf einer Wiese.
Nach einem schwierigen Jahr entspannen Johannes Fritz und die Waldrappe nach einem Flugtraining. © Gregor Kuntscher

Das Problem ist nicht nur das Wetter in diesem Jahr. „Der Klimawandel hat einen massiven Einfluss auf unser Projekt“, erklärt Fritz. Die Waldrappe bleiben aufgrund der warmen Temperaturen länger hier, „der Beginn der Herbstmigration verschiebt sich jedes Jahr um drei bis vier Tage nach hinten.“ Bloß: „Je später im Jahr wir losfliegen, desto labiler sind die Wetterbedingungen“, sagt Fritz. „Im Oktober wird es schon schwierig, da breitet sich in Andalusien der Levante-Wind immer stärker aus. Gegen den kommen wir mit unseren Fluggeräten nicht an.“

Das Überleben sichern

Früher, erzählt Fritz, sei er mit den Vögeln in die Toskana geflogen, aber das sei nun nicht mehr möglich – weil sie nicht mehr über die Alpen kommen, wenn sie später im Jahr losfliegen. Denn die Temperaturen steigen zwar, aber die Thermik verändert sich nicht im selben Ausmaß: „Später im Jahr finden die Vögel in den Bergen nicht mehr die Thermik, die Sie brauchen, um ihre Flughöhe zu erreichen“, sagt er. „Immer mehr Vögel scheitern beim Überfliegen der Alpen.“

Das stellt das Projekt vor neue Herausforderungen. Bis 2028 soll eine selbständig lebensfähige Population von Waldrappen existieren, das ist nicht nur Fritz‘ Plan, sondern auch das Ziel des Life-Projekts. Damals ergaben die Modelle des Waldrapp-Teams, dass dafür rund 340 Tiere benötigt werden. „Derzeit stehen wir bei rund 300 Tieren“, sagt Fritz – aber er zweifelt ein wenig daran, ob die damaligen Berechnungen immer noch stimmen. „Weil uns damals der Effekt des Klimawandels noch nicht so bewusst war und weil wir aufgrund dessen jetzt zwei Wintergebiete haben, die Toskana und Andalusien.“

Johannes Fritz in seinem Fluggerät
Bislang ist Johannes Fritz alleine in der Luft – die Vögel folgen ihm einfach nicht. © Gregor Kuntscher

Ein paar Wochen später ist alles anders. Die Migration „verläuft ein bisschen ungewöhnlich“, erzählt Fritz am Telefon. „Es verläuft ganz und gar nicht nach Plan.“ Anfang September hat das Waldrapp-Team erst zwei Stationen absolviert und campt in Kißlegg in Baden-Württemberg. Und die Vögel reisen ungewohnt, nämlich auf der Straße. Denn in der Luft folgen sie Fritz einfach nicht. „Vermutlich ist das Trainingsdefizit durch den verregneten Juli zu groß“, sagt er. „Das ist unsere 18. Migration, aber so etwas ist uns noch nie passiert.“

Deshalb musste kurzfristig umdisponiert werden. „Wir haben Glück, weil es auch ein neues Projekt in Katalonien gibt, wo eine Waldrapp-Kolonie etabliert werden soll – das sind nur 1.200 Kilometer.“ Dort sollen die Vögel nun überwintern. Auch wenn er nicht viel Hoffnung hat, „versuchen wir an jeder Station mit den Vögeln weiterzufliegen“. Schon alleine, damit sie sich orientieren können – was ihnen später die Möglichkeit gibt, den Weg aus ihrem Winterquartier zurück zu finden.

Über diese Serie

Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast bei Peter Turchin vom Complexity Hub, der die USA vor einem Bürgerkrieg sieht, hat mit Stefan Freunberger vom ISTA nach neuen Batterien gesucht und sich von Ludmilla Carone vom Grazer Institut für Weltraumforschung erzählen lassen, warum die Suche nach Aliens so schwierig ist. Alle Forschungsreisen können Sie hier nachlesen.

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