Das Protein der Zukunft
Katharina Unger setzt auf Insekten als effiziente und billige Proteinquelle. Mit ihrer Firma Livin Farms will sie nicht weniger als das Ernährungssystem revolutionieren.

Katharina Unger greift beherzt in eine der blauen Kisten, die sich in der Fabrikhalle am Simmeringer Stadtrand stapeln; und plötzlich wuselt es auf ihrer Hand. Was in den dutzenden sogenannten Klimakisten lagert und lebt, sind Larven der schwarzen Soldatenfliege – und gleichzeitig die Vision eines nachhaltigeren Ernährungssystems.
Mehr Forschungsreisen
Die Geschichte von Katharina Unger ist eine ungewöhnliche. Sie ist keine Biologin, die irgendwann zu dem Schluss kam, dass Insekten eine Lösung der Nahrungsmittelknappheit sein könnten. Sie studierte Industriedesign in Wien und zog nach Hongkong, wo sie in der Produktentwicklung – etwa für Kopfhörer oder Dashboards für Autos – tätig war. Vor allem aber war sie fasziniert von der Frage, wie man eine derartig riesige Stadt mit Nahrung versorgen kann: Wie funktioniert das? „Ich bin natürlich draufgekommen, dass vieles von sehr weit her kommt und ein großer Ressourcenaufwand dahintersteht.“

Eine Frage der Effizienz
Seitdem treibt sie diese eine Frage an: Wie würde es besser gehen? Also: „Wie kann ich am effizientesten Protein erzeugen?“, sagt Unger in einem Besprechungsraum sitzend, von dem aus sie die gesamte Fabrikanlage überblickt. Es war und ist, erzählt sie, „eine total technische Herangehensweise“. Wäre die Antwort Algen oder Pilze gewesen, würde Unger heute vermutlich von einer bestimmten Algen- oder Pilzart schwärmen.
So aber weiß sie nun alles über die schwarze Soldatenfliege und warum sie das perfekte Tier ist, um unser Nahrungsmittelsystem umzukrempeln. „Ich habe damals einige Insekten eingekauft und getötet, gekocht und gegessen, weil ich praktische Fragen beantworten wollte: Wie schlachtet und verarbeitet man Insekten? Kann ich mir vorstellen, das zu essen?“ Die Antwort, zumindest ihre persönliche, war: „Das ist möglich.“

Über Hongkong ging es für Unger in die USA – wo sie die schwarze Soldatenfliege für sich entdeckte – und wieder zurück nach Hongkong. Dort konnte Unger den ersten Investor für Ihren Prototypen einer Insektenfarm gewinnen – „damals noch, um sie als Lebensmittel zu Hause zu züchten und zu konsumieren“. 2018, als absehbar war, dass die Soldatenfliege als Futtermittel für Geflügel, Schweine und Fische in der EU zugelassen wird, kehrte Unger nach Europa zurück, fokussierte sich auf diesen Aspekt, und fing an, die ersten Businesspläne für Insektenzucht in großem Stil in Europa zu schmieden.
Erstmal Tierfutter, später unseres
„Livin Farms“ produziert nunmehr Insektenlarven und verkauft Anlagen, um diese zu züchten, zu ernten und zu Mehl zu zerkleinern. Die Vision, dass die Menschen in Zukunft mehr Insekten essen werden, hat Unger immer noch. Aber weil in der EU zwar der Mehlwurm – „mit dem habe ich auch lange gearbeitet“ –, nicht aber die schwarze Soldatenfliege für den menschlichen Verzehr zugelassen ist, ist dieser Aspekt erst einmal hintangestellt.

Fürs Erste soll das Nahrungsmittelsystem einmal indirekt revolutioniert werden: Zunächst sollen die Tiere, die wir essen, Insekten essen. Tierhaltung ist einer der ganz großen Brocken bei den weltweiten Emissionen und „den größten Fußabdruck bei der Tierproduktion haben die Futtermittel. Wenn man das nachhaltiger macht, ist schon viel gewonnen“, sagt Unger.
Das aus der Produktion gewonnene Insektenmehl ist Fischmehl sehr ähnlich und kann dieses ersetzen. Damit können die Insekten auch eine Waffe gegen die Überfischung sein, denn „für eine Tonne Fischmehl braucht man fünf Tonnen Fisch aus dem Meer“, erzählt sie. Und im Vergleich mit der Sojabohne „sparen wir bei der Produktion sogar bis zu 92 Prozent der CO2-Emissionen ein“, sagt Unger.

Die Fabrik in Simmering funktioniert als Demonstrationsanlage. „Die Kunden kommen hierher und schauen sich an, wie das Ganze funktioniert“, sagt Unger. Die Kunden von „Livin Farms“ sitzen bislang in Europa, wo bereits sechs Anlagen gebaut wurden. Anbahnungsgespräche gibt es auch mit den USA, Asien und Südamerika. „Im kommenden Jahr werden wir mehr als 200.000 Tonnen organische Rohstoffe umsetzen“, sagt Unger. „Und wir selbst nutzen die Fabrik hier als Reproduktionsanlage“ – was die herumschwirrenden Fliegen erklärt. Normalerweise gibt es in den Anlagen, die Livin Farms baut, keine Fliegen, „weil der Prozess vorher unterbrochen wird.“
Was Sie schon immer für die Soldatenfliege wissen wollten
Die Larven der schwarzen Soldatenfliege sind so klein, dass sie mit freiem Auge kaum sichtbar sind und in Mengen von einer halben Million Tieren in kleinen atmungsaktiv verpackten Säckchen verschickt werden können – „in einem Gramm sind 15.000 Tiere“, sagt Unger. Nur elf Tage später sind sie zu erntefähigen Larven herangewachsen. Damit ist sie die am schnellsten wachsende Insektenlarve – und bietet damit das beste Verhältnis von Rohstoff zu Protein.

Nicht der einzige Vorteil der Tiere; Unger setzt sich eine Fliege auf ihren Finger: „Die ist sehr nett. Sie schwirrt kaum herum, beißt und sticht nicht – sie hat nur einen Saugmund. Deshalb kann sie auch keine Krankheiten übertragen. Sie lebt nur drei Tage, frisst nichts, paart sich nur und stirbt – deshalb ist die Larve so proteinhaltig, weil sie so viel Energie kumulieren muss.“
Der süßliche Geruch der Aufzucht ist trotzdem kein angenehmer. „Das ist die Kombination aus Futter und dem Kot der Tiere“, erklärt Unger. Aber das ist eigentlich der einzige Nachteil. Insektenzucht ist nicht nur effizienter als Tierhaltung, sie quält auch keine Tiere: „Die aktuelle Massentierhaltung ist ethisch schwierig, das ist bei Insekten ganz anders: Sie leben von Natur aus auf engstem Raum, haben kein zentrales Nervensystem und kein Gehirn“ – und damit auch kein Schmerzempfinden. Das Einzige, das wir jetzt noch schaffen müssen, ist den Umweg abzuschaffen: Die Insekten nicht nur an andere Tiere zu verfüttern, sondern selbst zu essen.
Über diese Serie
Unter dem Titel „Forschungsreisen“ präsentieren wir spannende Forschungsprojekte aus ganz Österreich. Der Pragmaticus war bereits zu Gast bei Peter Turchin vom Complexity Hub, der die USA vor einem Bürgerkrieg sieht, hat mit Stefan Mayr von der Uni Innsbruck über die Zukunft der Alpenwälder unterhalten und sich von Lisa Bugnet am ISTA erzählen lassen, wie die Sterne klingen. Alle Forschungsreisen können Sie hier nachlesen.