Russlands Griff nach der Arktis

Die Rohstoffe und Seewege in der Arktis lassen sich infolge des Klimawandels immer leichter erschließen. Russland versucht, seine Dominanz abzusichern. Wenn der Westen hier noch mitspielen will, wird es höchste Zeit für eigene Initiativen.

Ein russischer Eisbrecher aus der Vogelperspektive zieht eine Bahn durch arktische Eisschollen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Putins Ambitionen in der Polarregion.
Russlands Atomeisbrecher „50 Let Pobedy“ (50 Jahre Sieg) ist mit 159 Meter Länge einer der größten der Welt. Mit 75.000 PS räumt er die Seewege der russischen Arktis. © Alamy
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Auf den Punkt gebracht

  • Neuland. Die Arktis und ihre Rohstoffe werden durch die höheren Durchschnittstemperaturen zunehmend besser zugänglich.
  • Vormacht. Russland hat seine Präsenz in der Polarregion verstärkt, um seine Vorherrschaft in der Region zu zementieren.
  • Abkürzung. Moskau versucht auch, die Kontrolle über den Nördlichen Seeweg zu erlangen, eine lukrative Handelsroute zwischen Asien und Europa.
  • Aufholjagd. Der Westen muss seine Strategie in der Arktis überdenken, um sicherzustellen, dass Moskaus Dominanz nicht Überhand nimmt.

Nördlich des Polarkreises, also etwas über dem sechsundsechzigsten Grad nördlicher Breite, ist die Erde ein unberührter, trostloser Ort. Man könnte die zerklüftete, vereiste Landschaft für einen anderen Planeten halten. Die Arktis ist jedoch kein Niemandsland. Der größte Teil des Gebiets gehört zu Russland, die anderen sieben Länder mit Territorien in der Region sind NATO-Verbündete (Schweden ist Beitrittskandidat). Mit dem wachsenden Interesse an dieser Region steigt auch die Gefahr globaler Reibereien.

Die Temperaturen im Norden steigen dreimal so schnell wie im globalen Durchschnitt. Damit werden die reichhaltigen Ressourcen der Arktis immer leichter zugänglich. Leider hat sich auch das politische Klima zwischen Russland und der NATO aufgeheizt; die strahlende Vision von der Polarregion als „Zone des Friedens“, die der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow in Murmansk gegen Ende des Kalten Krieges formuliert hatte, ist in weite Ferne gerückt. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts in der Arktis scheint zwar gering, aber Moskau ist entschlossen, die Vorherrschaft in der Region zu verteidigen.

Während des Kalten Krieges war die Arktis einer der am stärksten militarisierten Orte der Erde und spielte eine zentrale Rolle in der nuklearen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion. Gorbatschows bedeutsame Rede von 1987 in Murmansk, dem Stützpunkt der sowjetischen Atom-Unterseeboote, markierte den Anfang eines friedlichen Übergangs in der Region.

Arktis als Zone des Friedens

In den 1990er-Jahren kämpfte das postsowjetische Russland mit innenpolitischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, während sich die USA in Konflikte im Nahen Osten stürzten. Die Ost-West-Rivalität war vorbei, und damit schwand die Bedeutung der Polarregion; beide Länder gaben ihre militärischen Einrichtungen im Norden auf. Bis zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde die regionale Ordnung in der Arktis oft als außergewöhnlich bezeichnet: Sie galt als ein Raum der Zusammenarbeit, der von jedem Konflikt abgeschirmt war.

Moskau erkannte sehr bald die Bedeutung der Arktis für seinen weltweiten Einfluss.

In den späten 2000er-Jahren festigte Wladimir Putin seine Macht in Russland. Die Wirtschaft des Landes erholte sich von der Finanzkrise, vor allem dank der Förderung von Öl und Gasvorkommen im Norden des Landes. Nachdem Russland die postsowjetische Lähmung abgeschüttelt hatte, versuchte es den Minderwertigkeitskomplex gegenüber den USA zu überwinden, indem es sich auf seine internationale Rolle konzentrierte.

Moskau erkannte sehr bald die Bedeutung der Arktis für seinen weltweiten Einfluss. Aufgrund des Klimawandels ist die Region nicht mehr ein unüberwindbares natürliches Hindernis für die Expansion nach Norden, sondern ein riesiges Gebiet mit völlig neuen Möglichkeiten. Die selbst ernannte „führende Arktismacht“ renovierte und erweiterte zuvor vernachlässigte sowjetische Militärbasen, Tiefwasserhäfen und Flugplätze. 

Unter Putin wurde die Nordflotte modernisiert, an der arktischen Grenze entstanden neue militärische Einrichtungen. Diese Aktivitäten dienen nicht nur militärischen Muskelspielen, sondern sie sind unerlässlich, um kritische Infrastruktur, vor allem die Öl- und Gasterminals, zu schützen. Laut Schätzungen fördert Russland mehr als achtzig Prozent seines Erdgases und etwa zwanzig Prozent des Öls in der Polarregion.

Lukrative Abkürzung

Mit der Militarisierung der Arktis versucht Russland auch, sich die Kontrolle über den Nördlichen Seeweg zu sichern – eine Schifffahrtsstraße, die sich durch den Arktischen Ozean von der Beringstraße im Osten bis zur Barentssee im Westen erstreckt. Diese Route könnte eine wesentlich kürzere Alternative zur wichtigsten Passage zwischen Asien und Europa über den Suezkanal bieten, was die Fahrzeit um bis zu vierzig Prozent verringern und die Kosten entsprechend senken würde. 

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Zahlen & Fakten

Derzeit können Schiffe den Nördlichen Seeweg zwischen Juli und November passieren, wenn fragmentiertes Meereis es zulässt. Dieses Navigationsfenster dürfte sich mit dem weiteren Rückzug der Eisschicht vergrößern. Während die klimatischen Bedingungen für die neue Handelsroute günstig sind, stellen politische Faktoren eine Herausforderung dar.

Wegen des russischen Überfallskriegs gegen die Ukraine und der daraus resultierenden Sanktionen zogen sich westliche Unternehmen, die zuvor das Potenzial des Nördlichen Seewegs erkundet hatten, zunehmend zurück. Die Frachtschifffahrt über den polaren Seeweg kam de facto zum Erliegen. Russland könnte diese Entwicklung umkehren, indem es Unternehmen aus Asien anzieht – insbesondere aus China, das keinen Zugang zum Arktischen Ozean hat, sich aber trotzdem als „arktisnaher Staat“ betrachtet und bis 2030 eine „große Polarmacht“ werden will.

Aufrüstung im ewigen Eis

Ausländische Reedereien in die Polarregion zu holen gehört also zu den wichtigsten Zielen des russischen Entwicklungsplans für den Nördlichen Seeweg. Die Regierung hat umgerechnet fast 18 Milliarden Euro bereitgestellt, um internationale Polartransite zu erleichtern. Das Geld fließt unter anderem in den Bau von Eisbrechern, die einen Weg durch dickes Packeis pflügen, und Schiffen der Eisklasse, die den extremen Bedingungen standhalten. Wenn man bedenkt, dass rund neunzig Prozent des Welthandels auf dem Seeweg abgewickelt werden, würde der erfolgreiche Betrieb des Nördlichen Seewegs den Einfluss Russlands in der Arktis und darüber hinaus erheblich stärken.

Mit Russlands strategischer Positionierung, seinen militärischen Aktivitäten und den wirtschaftlichen Investitionen im Norden können die anderen sieben Arktisstaaten (USA, Kanada, Dänemark, Island, Norwegen, Schweden, Finnland) nicht mithalten. Es ist kaum verwunderlich, dass Russland der Region eine höhere Bedeutung beimisst als jedes andere Land. Immerhin ist es der mit Abstand größte Arktisstaat, und seine Einwohner stellen fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung in der nördlichen Polarregion.

Doch auch wenn andere Länder im Norden nicht über vergleichbare Interessen und Möglichkeiten verfügen, sollten sie sich nicht darauf verlassen, dass es im ewigen Eis ruhig und weitgehend konfliktfrei bleiben wird. Dagegen sprechen schon die wirtschaftlichen und militärischen Fortschritte, die Russland macht.

Frostiger Ausblick

Ein feindlicher Staat, der unkontrolliert Macht aufbaut, ist gefährlich. Russland hat immer wieder seine Rücksichtslosigkeit und Respektlosigkeit gegenüber internationalen Regeln unter Beweis gestellt. Die Arktis macht da keine Ausnahme. Allein in den vergangenen paar Jahren war Russland in der Polarregion gleich in mehrere Sicherheitsvorfälle außerhalb seiner eigenen Grenzen verwickelt. Die Vorfälle reichten von maritimen Übergriffen über Spionage bis hin zur Manipulation von Unterwasserkabeln und dienten Moskaus Bestreben, seine Dominanz jenseits des Polarkreises zu zementieren.

Ohne einen Dialog mit Russland – der sich aktuell nicht abzeichnet – kann es kein gegenseitiges Vertrauen geben, und die Bedrohung wird unweigerlich hoch bleiben.

Bewaffnete Aktionen in der Arktis sind derzeit wegen der enormen russischen Abnützung im Ukrainekrieg unwahrscheinlich. Aber die hybride Kriegsführung dürfte weitergehen. Dazu zählen etwa Cyber-Attacken, Desinformation, Propaganda, wirtschaftliche Manipulation und politischer Druck.

Das Dilemma: Ohne einen Dialog mit Russland – der sich aktuell nicht abzeichnet – kann es kein gegenseitiges Vertrauen geben, und die Bedrohung wird unweigerlich hoch bleiben. In diesem volatilen Umfeld muss die NATO, zu der alle anderen sieben Arktisstaaten gehören, ihre militärische Präsenz ausweiten und die Aufklärungsarbeit besser koordinieren, um eine robuste Abschreckung zu gewährleisten. Nur so lässt sich die Machtdynamik wirksam eindämmen und können mögliche Übergriffe Russlands verhindert werden.

Untätiges Europa 

Wie gewohnt hält sich die Europäische Union von der großen politischen Bühne fern und legt ihren Fokus in der Arktis hauptsächlich auf Belange des Umwelt- und Klimaschutzes. Als große Wirtschaftsmacht hat sich die EU verpflichtet, das kommerzielle Potenzial der Polarregion zu nutzen und gleichzeitig den Schutz der Natur zu gewährleisten. 

Im Gegensatz zu Russland ist die EU nicht daran interessiert, Öl und Gas zu fördern, sondern erneuerbare Energien auszubauen. Die Ressourcen der Arktis könnten für die strategische Unabhängigkeit Europas entscheidend sein: In der Region gibt es wichtige Rohstoffe, die für den Ausbau der Solar- und Windenergie sowie in der Chipherstellung benötigt werden, darunter Lithium, Kobalt, Seltene Erden und Grafit. Die Polarregion wäre auch ein gutes Testfeld für Wind-, Geothermie- und Wasserkraftprojekte sowie für eine nachhaltige Produktion von Stahl und Batterien. 

Russland hat sich einen Vorsprung in dieser strategisch so wichtigen Region gesichert. Umso wichtiger ist es nun, dass der Westen der Arktis nicht die kalte Schulter zeigt.

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Conclusio

Das schmelzende Polareis eröffnet neue strategische und kommerzielle Möglichkeiten. In dieser neuen geopolitischen Arena erlangt Russland derzeit eine Vormachtstellung, während die anderen Arktis-Staaten, allesamt NATO-Länder, erst langsam in den Wettbewerb einsteigen. Moskau baut Militärbasen und seine Nordseeflotte aus. Mit Chinas Unterstützung entsteht in Nordsibirien neue Infrastruktur und werden Rohstoffe erschlossen. Jetzt ist strategischer Weitblick des Westens gefragt: Die Polarregion beherbergt wichtige Ressourcen, die für den Ausbau der Solar- und Windenergie sowie in der Chipherstellung benötigt werden. Die zunehmend eisfreien Seewege sind darüber hinaus für den Handel und militärische Operationen bedeutend. Amerikaner wie Europäer sollten nun ernsthaft die Aufholjagd antreten.

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