Gegenwart im Licht der Zukunft
Science Fiction schärft unseren Blick auf die Gegenwart. Wir empfehlen Emmanuel Carrère, Kaliane Bradley und Rainer Zitelmann. Unsere Buchtipps Teil III.

Sich die Zukunft auszumalen, erfordert zwei Fähigkeiten. Die eine besteht in einer genauen Kenntnis der Wirklichkeit und einem Interesse an aktuellen Strömungen; die andere liegt in der Vorstellungskraft, die Gegenwart nach vorne zu denken, sich die kommenden Welten also so auszumalen, dass die Lesenden sie noch nachvollziehen können. Je nach Vision der Autoren und Autorinnen gibt es Utopien, die zuversichtlich stimmen und Dystopien, die negativ in die Zukunft blicken – letztere wollen dann gerne als Warnungen verstanden werden. Ein Risiko gibt es für Science Fiction-Schriftsteller und -Schriftstellerinnen: Die Nachwelt wird entscheiden, ob ihre Visionen falsch oder genial waren.
Mehr übers Lesen
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Buchtipp 1

Der genial Verrückte
Science Fiction als Genre ist eine Erfindung der 1960er-Jahre und Philip K. Dick einer der Ersten, dem diese einst trashige Gattung zu Kult verhalf. Der Autor von Blade Runner war groß darin, neue Wirklichkeiten zu imaginieren. Genau das inspirierte den französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère 1991, eine Biografie über Dick zu schreiben – sie erscheint nun auf Deutsch.
Das Buch vereint vieles. Es ist die tatsachengetreue Lebensgeschichte eines wüsten Nerds, der menschlich wie literarisch Grenzen auslotete, dessen Denken zwischen Paranoia und Genialität schwankte, dem es aber trotzdem gelang, eindrückliche Narrative für Parallelwelten zu schaffen. Und das Buch ist ein Sittenbild der USA mit Kommunistenhass, der Angst vor Überwachung und Religion als treibenden Kräften. Viele von Dicks Visionen sind sogar Realität geworden. Das zeigt: Science Fiction kann Wirklichkeit prägen. Emmanuel Carrère, Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick, Matthes & Seitz, 29,50 Euro
Buchtipp 2

Auf Zeitreise
Wie würden sich Menschen aus der Vergangenheit im 21. Jahrhundert zurechtfinden? Das ist die Grundidee dieses Romans von Kaliane Bradley. Hauptperson ist der Polarforscher Graham Gore, der bei der Entdeckung der Nordwestpassage 1847 ums Leben kam und wiedererweckt mit einer jungen Frau von heute in einer WG leben muss. Die ritterlichen Werte eines Kolonialisten von einst kollidieren mit Feminismus, Antirassismus und Postkolonialismus, und wunderbar komisch wird das, wenn es um die Einschätzungen von Technologien geht.
Die Lektüre verändert den Blick auf die Vergangenheit, lässt die Gegenwart zeitkritisch erscheinen und gibt im Rahmen einer wilden Verfolgungsjagd am Ende auch eine Vision in die Zukunft. Abenteuer und Liebe inklusive. Fazit: ein kunstvolles Netz aus multiplen Geschichten, in denen Raum und Zeit ineinander verschwimmen – ohne dass jemals die Spannung verloren geht. Kaliane Bradley, Das Ministerium der Zeit, Penguin, 25,50 Euro
Buchtipp 3

Warum Kapitalismus retten
Der Pragmaticus-Autor Rainer Zitelmann hat über 29 Sachbücher geschrieben. Sein Kernthema: der Kapitalismus, genauer gesagt seine Vorzüge und unbedingte Notwendigkeit. Um diese seine Überzeugung auch emotional greifbar zu machen, wagt er sich an ein neues Genre. „2075“ ist ein Science-Fiction-Roman, in dem eine politische Bewegung die Abschaffung der Schönheit propagiert, damit die Gesellschaft chancengerechter wird.
In diesem überspitzten Setting kämpfen die schöne Alexa und der Journalist Riven tapfer gegen die neidischen Gleichmacherinnen an und werden schlussendlich zu Helden gegen aufkeimenden Totalitarismus. Im Zuge der Erzählung treten Zitelmanns libertäre Überzeugungen wenig subtil zutage. Und: Der Sachbuchautor auf Abwegen imaginiert eine Welt, in der auch sämtliche technologische Konzepte von heute Wirklichkeit geworden sind. Ergo Sci-Fi total. Rainer Zitelmann, 2075. Wenn Schönheit zum Verbrechen wird, Langenmüller, 22,70 Euro