Reisen im Kopf
Die Romane von Ngozi Adichie, Tan Twan Eng und David Wagner laden zum radikalen Perspektivenwechsel ein. Der zweite Teil unserer Buchtipps.

Andere Perspektiven einzunehmen, kommt dem Reisen gleich: Vertrautes aufzugeben, sich auf ein anderes Verständnis der Welt einzulassen, fällt mit Erzählungen und Romanen leicht. Manchmal lassen diese Reisen im Kopf ein neues Weltbild entstehen. Wir empfehlen drei Bücher, mit denen das tatsächlich gelingen könnte.
Mehr übers Lesen
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Buchtipp 1

Trotzdem Türkei
Verkin ist der armenische Vorname einer Frau um die siebzig, der ein eher langweiliger deutscher Autor auf einer Party in Deutschland begegnet. Schnell ist klar: Ihre Biografie ist Stoff für einen Roman und so schillernd, dass er einfach nur zuhören kann. Das tut er – und schreibt die Geschichte danach auf.
Er erzählt Verkins Leben als Spross einer armenischen Familie, die den Genozid durch die Türken überlebt, aber trotzdem in Istanbul bleibt. Der Vater macht ein Vermögen, seine Tochter wird in ein Schweizer Internat gesteckt und taucht in die 68er-Revolution und die Künstlerkreise New Yorks ein; schließlich wird sie selbst Geschäftsfrau. Ihr Leben zwischen Orient und Okzident und Verkins Blick auf die Welt überraschen auf jeder Seite neu. Nebenbei ist dieser Roman auch ein Reiseführer durch die Türkei der letzten Jahrzehnte, ein Beziehungsdrama (fünf Ehemänner!) und der Bericht eines Überlebenskampfes. David Wagner, Verkin, Rowohlt, 27,50 Euro
Buchtipp 2

Das alte Malaysia
Schauplatz dieses durch und durch exotischen Romans ist Malaysia in den 1920er-Jahren. Das britische Empire ist noch intakt, die patriarchalen Strukturen sind es ebenso, und der britische Schriftsteller William Somerset Maugham besucht seinen alten Jugendfreund Robert in Penang. Dessen auf den ersten Blick perfektes Leben mit Ehefrau Lesley stellt sich schnell als Scheinwelt heraus. Hinter malerischen
Kulissen verbergen sich Dramen aller Art.
Da geht es um erloschene Liebe, versteckte Homosexualität, um einen chinesischen Revolutionär und eine sich in Auflösung befindliche Weltordnung. Tan Twan Eng ist ein Meister darin, sein Publikum immer tiefer in einen Kosmos aus Geschichten hineinzuziehen; über weite Strecken liest sich das Buch wie ein Krimi. Dabei verwebt Tan Twan Eng Faktisches mit Fiktivem – und regt dazu an, W. S. Maughams Bücher mit neu gewonnenem Wissen wieder zu lesen. Tan Twang Eng, Das Haus der Türen, Dumont, 25,50 Euro
Buchtipp 3

Neugier auf Nigeria
Vier Frauen, vier Leben, vier unterschiedliche Suchen nach Glück und Selbstbestimmtheit: so der simple Aufbau eines Romans, der die Welt aus einer weiblichen schwarzen Perspektive beschreibt. Darin arbeitet sich eine wohlhabende nigerianische Reiseschriftstellerin an den Heiratswünschen ihrer Eltern ab, strauchelt ihre beste Freundin in Washington als unerwartet Alleinerziehende und wird eine Bankerin durch Geldwäsche in Nigeria reich.
Es sind Geschichten aus einer globalisierten Welt, klug erzählt, unaufgeregt, aber differenziert und aufklärend vor allem dann, wenn es um Gewalt an Frauen geht. Adichie hat im vierten Frauenschicksal des Buchs die Geschichte von Nafissatou Diallo eingewoben, jener Frau, die den französischen Politiker Dominique Strauss-Kahn 2011 wegen Vergewaltigung angezeigt und damit ungleiche Machtverhältnisse zum Thema gemacht hat. Fazit: ein universalistischer Roman. Chimananda Ngozi Adichie, Dream Count, Fischer, 29,50 Euro
Mehr Literatur
Was Krieg mit Menschen macht
Wenn die Waffen schweigen, ist der Krieg noch lang nicht vorbei, zeigen Dacia Maraini, Martin Prinz und Taina Tervonen. Der erste Teil unserer Buchtipps.