Was tun gegen den Bürokratieinfarkt
Die Unternehmen fühlen sich durch ein immer engeres Korsett aus Regelungen eingeschnürt, während die Wirtschaft seit zwei Jahren stagniert und die Industrie sogar schrumpft. Was bei der Entrümpelung der Regelwerke wichtig ist und welche Länder das gut hinbekommen.

Auf den Punkt gebracht
- Bürokratieentlastungsgesetz. Das vierte deutsche Bürokratieentlastungsgesetz verkürzt Aufbewahrungspflichten, aber berücksichtigt nur wenige Vorschläge aus der Wirtschaft.
- Praxischecks. Praxischecks sollen die Wirkung von Gesetzen prüfen und bürokratietreibende Widersprüche aufdecken.
- Standardkostenmodell. Das Standardkostenmodell misst die Bürokratiekosten, stößt aber an Grenzen, da Regelungen nicht ausreichend erfasst werden.
- Digitalisierung. Die Digitalisierung von Verwaltungsprozessen birgt großes Potenzial zur Reduzierung von Bürokratie, wird in Deutschland jedoch nur langsam umgesetzt.
Mit dem vierten Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) hat die deutsche Bundesregierung im heurigen Herbst einen neuen Anlauf zur Entlastung der Wirtschaft unternommen – angekündigt worden war dieser Schritt bereits von der vorherigen großen Koalition. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier hatte es aber nicht vermocht, seine Ressortkollegen zum Bürokratieabbau zu verpflichten.
Wichtigste Maßnahme im BEG IV ist die Verkürzung der Aufbewahrungspflichten für Steuerbelege von 10 auf 8 Jahre. Von über 400 Bürokratieabbauvorschlägen aus der Wirtschaft schafften nur 11 den Weg ins Gesetz, was die starken Widerstände aus den jeweils zuständigen Ressorts gegen jede Vereinfachung, die auch als materielle Rücknahme von Regulierungen verstanden werden kann, verdeutlicht.
Die ersten drei Bürokratieentlastungsgesetze waren von 2015 bis 2019 verabschiedet worden und brachten Wirtschaft und Bürgern relativ überschaubare Entlastungen von jeweils mehreren 100 Millionen Euro, nur das BEG III war etwas größer. Eine stärkere Berücksichtigung von Vorschlägen aus der Wirtschaft hätte jeweils höhere Entlastungen ermöglicht, was auf die Potenziale der Einbeziehung von Praktikern und Betroffenen verweist.
Praxischecks ausbauen
Die Einbeziehung der Betroffenen erfolgt am besten in geordneter Form, indem die Wirkung der Gesetze in Praxischecks überprüft wird. Diese ermöglichen es auch, die Wechselwirkung unterschiedlicher Gesetze und Verordnungen zu ermitteln, die im Gesetzgebungsprozess oft keine Rolle spielt: Bürokratietreibende Widersprüche können mithilfe der Checks aufgedeckt und abgestellt werden. Nachdem das Instrument der Praxischecks in den letzten Jahren nur vereinzelt genutzt wurde, hat sich die Bundesregierung kürzlich verpflichtet, in jedem Ministerium noch bis Ende der Legislaturperiode vier derartige Checks durchzuführen, also insgesamt 64. Ob dies tatsächlich gelingt bleibt abzuwarten.
Systematisierung nach Standardkostenmodell ausbauen
Immerhin zeigen die Bürokratieentlastungsgesetze mit ihrer rechnerischen Kostenreduktion, dass es auf nationaler Ebene in Deutschland anders als auf EU-Ebene eine etablierte Erfassung der administrativen Kosten durch Bürokratie gibt. Die Bundesregierung misst den Bürokratieaufwand für die Wirtschaft – und inzwischen auch für die Bürger – seit 2006 und nutzt hierzu das in den Niederlanden entwickelte Standardkostenmodell. Dieses erfasst die notwendigen Arbeitsschritte zur Bearbeitung rechtlicher Anforderungen systematisch, indem die erforderlichen Arbeitsstunden pro betroffenem Unternehmen erhoben werden, um über die durchschnittlichen Stundensätze der Bearbeiter sowie die Anzahl der betroffenen Unternehmen zur Summe der verursachten Bürokratiekosten zu gelangen.
Dieses Modell für die Bundes-Bürokratie stößt allerdings inzwischen an seine Grenzen. Trotz eines leicht gesunkenen Bürokratieindex für die Bundesgesetzgebung, der aus der jährlichen Fortschreibung der laufenden Bürokratiekosten resultiert, klagen Unternehmen über immer umfangreichere Bürokratie. Gründe sind die fehlende Erfassung von Regelungen der Länder, Kommunen und der EU-Ebene, aber auch zunehmend langsamere Verwaltungsprozesse und Genehmigungsverfahren, deren Kosten von dem Modell nicht berücksichtigt werden.
Trotz eines leicht gesunkenen Bürokratieindex für die Bundesgesetzgebung klagen Unternehmen über immer umfangreichere Bürokratie.
Problematisch sind auch unklare Rechtsbegriffe und eine Beweislastumkehr wie in der Antidiskriminierungsgesetzgebung, die schwer zu messende Bürokratie verursachen. Für eine größere Wirksamkeit müsste der prinzipiell gelungene Modellansatz daher auf weitere Bereiche ausgedehnt werden und auch die Bindung von Managementkapazitäten in den Betrieben berücksichtigen, die das reguläre Geschäft beeinträchtigt. Insbesondere muss die EU ihre Richtlinien und Verordnungen modellhaft analysieren und mit einem Preisschild versehen – andernfalls wird der Plan von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Bürokratie um ein Viertel zu reduzieren, ins Leere laufen.
EU-Regelungswut einhegen
Zur wirksamen Bürokratiebekämpfung benötigt es nicht nur eine systematische Überprüfung des bestehenden Regelwerks, sondern auch eine kritische Haltung gegenüber neuen Regulierungswünschen. Die vergangene EU-Legislaturperiode kann hier als Negativbeispiel fungieren: Die Flut neuer bürokratieträchtiger Regelungen aus Brüssel ist beeindruckend.
Hierzu zählen die CSRD-Richtlinie 2022/2464 zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, die allein in Deutschland neue Bürokratiekosten von über 1,6 Milliarden Euro verursachen wird, das kurz vor der Europawahl verabschiedete EU-Lieferkettengesetz mit weiteren Belastungen, und die EU-Taxonomie für den Bankensektor, deren Bürokratieaufwand aufgrund ihrer indirekten Wirkung über das Finanzwesen nur sehr schwer zu bestimmen ist. Die Nachhaltigkeitsrichtlinie wird schrittweise bis 2028 eingeführt und verpflichtet in Deutschland etwa 15.000 kapitalmarktorientierte Unternehmen, umfangreiche Berichte zur Nachhaltigkeit ihrer Geschäftsprozesse zu dokumentieren und zu melden. Europaweit dürften bis zu 50.000 Unternehmen betroffen sein. Dabei werden etwa 1.000 verschiedene Einzeldaten abgefragt. Viele Unternehmen müssen hierzu allerdings Informationen aus ihrer Lieferkette einholen.
Die Flut neuer bürokratieträchtiger Regelungen aus Brüssel ist beeindruckend.
Der induzierte Bürokratieaufwand bei den nicht direkt berichtspflichtigen Unternehmen ist in den 1,6 Milliarden Euro aber noch nicht einmal erfasst. Diese indirekte Wirkung auf kleine und mittlere Unternehmen in den Lieferketten ist auch ein großes Problem des EU-Lieferkettengesetzes, das zu erheblichen Zusatzkosten führt. Auf europäischer Ebene scheint ein Kurswechsel, der auch eine kritische Überprüfung der beschlossenen Regelwerke beinhaltet, daher dringend geboten.
Ein Blick auf die europäischen Nachbarn
Auch im Rahmen der EU-Gesetzgebung bestehen allerdings Möglichkeiten, das nationale Regulierungssystem bürokratieärmer zu gestalten, als es Deutschland tut. Best Practice-Vorbilder gibt es in nahezu allen Bereichen. So hat das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien schon vor etwa 15 Jahren begonnen, Gesetze nach dem „Better Regulation“-Prinzip einfacher und auch für Nicht-Juristen verständlich zu formulieren.
Deutschland ist im Digitalbereich ein Nachzügler.
Legisten in den Ministerien erhalten entsprechende Schulungen und Formulierungshilfen, der „Better Regulation Executive“ überwacht den Prozess. Die Niederlande sind inzwischen anders als Deutschland weit über das dort „erfundene“ Standardkostenmodell hinausgegangen und verfolgen ebenfalls einen ganzheitlichen Regulierungsansatz, der auf einfache Verfahren setzt und die Wechselwirkung zwischen gesetzlichen Regelungen mit in den Blick nimmt. Die skandinavischen Länder setzen ebenso wie das bekannte Vorbild Estland auf die Digitalisierung ihrer Verwaltung und digitaltaugliches Recht, um Bürger und Unternehmen bei der Umsetzung zu entlasten. Deutschland ist im Digitalbereich, wie nachfolgend gezeigt, ein Nachzügler.
Langwierigere Genehmigungsverfahren beschleunigen
Die wachsende Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren für Industrieanlagen mit kontinuierlich steigendem Gutachteraufwand zur Prüfung der Einhaltung europäischer und nationaler Bestimmungen ist ein weiteres Bürokratieärgernis, dass von der Politik adressiert werden muss. Im „Meseberger Paket“ der Bundesregierung sind Maßnahmen zur Beschleunigung enthalten, die aber vermutlich nicht ausreichen werden. Klagewege müssen verkürzt, die Gutachtenzahl begrenzt und Fachbehörden mit sich widersprechenden Anforderungen zur zügigen Einigung verpflichtet werden. Wichtig sind in diesem Kontext auch mehr Entscheidungsbefugnisse nach Ermessen durch Verwaltungsbeschäftigte. Nur wenn es eine Fehler- und Ermessenskultur gibt und es schwieriger wird, Verwaltungsentscheide zu beklagen, kann der Trend zur Anforderung immer neuer zeitraubender und kostspieliger Gutachten zur Absicherung der Entscheidungsträger gestoppt werden.
Zu den weiteren Maßnahmen und Grundsätzen, die zu weniger Bürokratieaufwand führen können, zählen mehr Pauschalierungen mit weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ (Regelungen, die möglichst viele Sonderfälle berücksichtigen sollen und damit unübersichtlich werden und schwer zu handeln sind), „Sunset Clauses“ zum automatischen Auslaufen von Gesetzen (an geeigneter Stelle, sonst kommt es zu Verlängerungen ohne ernsthafte Prüfung aufgrund der Vielzahl der auslaufenden Gesetze) und vor allem eine stringente Verwaltungsdigitalisierung.
Potenziale der Digitalisierung heben
Die Digitalisierung der Datenübertragung zwischen Unternehmen und Verwaltungen und der Antrags- und Genehmigungsprozesse birgt hohes Potenzial zur Reduzierung von Bürokratie. Im Idealfall werden Meldungen an Behörden und Anträge teil- oder vollautomatisch aus digital verfügbaren Unternehmensdaten generiert und Behörden erhalten, prüfen und verarbeiten diese Daten nahezu in Echtzeit ebenfalls digital und medienbruchfrei. Anträge können dann nach automatischer Vorprüfung zügig entschieden werden. Die Realität ist aber – zumindest in Deutschland – eine andere.
Im Rahmen des 2017 verabschiedeten Onlinezugangsgesetzes (OZG) werden in den Verwaltungen nach und nach Online-Masken entwickelt, wobei Länder und Kommunen nicht selten unabgestimmt sehr unterschiedliche Lösungen erarbeiten. Hinter den Online-Masken bleiben die historisch gewachsenen analogen Prozesse oft nahezu unverändert. Selbst dieser unbefriedigende Umsetzungsprozess ist heute, zwei Jahre nachdem das OZG eigentlich abgeschlossen sein sollte, noch nicht einmal zur Hälfte bewältigt.
Wichtig sind auch verknüpfte digitale Datenregister, um die EU-Vorgabe der „Only Once“-Meldung an staatliche Stellen zu erreichen: Aus den Registern können vorausgefüllte Formulare erstellt werden, so dass Unternehmen und Bürger bei Kontakten mit der Verwaltung nicht die gleichen Daten immer wieder neu eingeben müssen. Perspektivisch hinzu kommt die Schaffung von digitaltauglichem Recht, das maschinenlesbar und KI-fähig (d.h., vorbereitet für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Rechtsumsetzung) ist. Die Einführung durchgängig digitaler Prozesse, verknüpfter Register und einer KI-unterstützen Verwaltung zur Begegnung des demografiebedingt wachsenden Fachkräftemangels bleiben auf der To-do-Liste für die Politik, um die Bürokratiebelastung zu reduzieren und einem drohenden Infarkt in den überlasteten Verwaltungen vorzubeugen.
Conclusio
Gesetzesflut. Die EU beschert uns lauft neue Regulierung. Allein die Nachhaltigkeitsberichterstattung belastet die deutschen Unternehmen mit 1,6 Milliarden Euro.
Hausgemacht. Ein guter Teil der Bürokratie entsteht freilich in den Mitgliedsstaaten. Zahlreiche Länder schaffen es trotz EU-Korsetts, weniger und einfachere Regelungen festzulegen.
Vorbilder. Beispiele für die Reduktion der Bürokratie sind u.a. Großbritannien und die Niederlande. Estland zeigt wiederum, welche Potenziale in der Digitalisierung liegen.
Bürokratie abbauen – aber wie?
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