Der Papierkrieg und seine Opfer

Unternehmer und Konsumenten stöhnen unter der Last der Bürokratie. Obwohl die Politik seit Jahren Besserung verspricht, werden die Regeln und Auflagen immer mehr. Das kostet Geld und Nerven und schadet dem Wirtschaftsstandort.

Die Illustration zeigt eine Hand, die in einem Strudel aus Dokumenten gefangen ist. Das Bild illustriert einen Text über die Bürokratieflut.
Ein Formular mehr geht immer noch: Dass die Bürokratie ständig zunimmt, ist keine Einbildung, sondern Fakt. © Andreas Leitner
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Auf den Punkt gebracht

  • Bürokratiebelastung. Unternehmer und Konsumenten leiden unter zunehmender Bürokratie, die trotz politischer Versprechen nicht abnimmt.
  • Kostenintensiv. Die Überregulierung kostet Österreich jährlich bis zu 15 Milliarden Euro und schadet dem Wirtschaftsstandort.
  • EU-Bürokratien. Seit Österreichs EU-Beitritt hat die Bürokratie durch EU-Regelungen weiter zugenommen und hemmt zusätzlich wirtschaftliches Wachstum.
  • Lösungen. Vorschläge umfassen Entrümpelung, Vorabprüfungen, „One in, one out“-Prinzip und und die verstärkte Nutzung der Digitalisierung.

Alltag in Österreich: In einem Hotel sind die Treppenabsätze einer Außen-Fluchtstiege um einen Zentimeter zu hoch und werden von der Baubehörde beanstandet; ein Gastronom schlägt sich gleichzeitig mit Arbeitsinspektorat und Gesundheitsbehörde herum, die wegen der Rutschfestigkeit eines Küchenbodens widersprüchliche Auflagen machen; und in einem Spital muss ein Patient vier Formulare mit großteils identischen Fragen ausfüllen.

Die genannten Zumutungen illustrieren ein Problem, das entgegen allen Sonntagsreden ständig wächst, statt kleiner zu werden: die wuchernde Bürokratie. Sie bringt Betroffene mitunter zur Verzweiflung, beschäftigt Heerscharen an teuren Beamten und hält Unternehmen wie Konsumenten auf Trab.

Regeln bis ins letzte Detail

Keine Frage: Ohne Regeln und deren Kontrolle sowie die Sanktionierung von Verstößen funktioniert keine moderne Gesellschaft. Man denke nur an Schäden, die durch Verkehrsregeln, Arbeitsgesetze oder Luftschutzbestimmungen verhindert werden. Doch über die Jahrzehnte haben Politik und Verwaltung so gut wie jeden Lebensbereich bis ins Detail geregelt. Von der Wiege bis zur Bahre muss der Bürger den Normen entsprechen, die der Staat festgelegt hat – und die immer zahlreicher werden.

Bürokratien neigen dazu, sich quasi in Eigenregie immer weiter auszudehnen, das ist lange bekannt. Vor allem Unternehmer leiden unter dem ausufernden Papierkrieg und der Verpflichtung, jede Kleinigkeit zu dokumentieren. Ein Einzelunternehmer verbringt im Schnitt 250 Stunden im Jahr mit Papierkrieg. Tendenz: stark steigend. Woran das liegt und wie sich das ändern ließe, beschreiben namhafte Experten in diesem Dossier.

1. Bürokratiemonster EU

Seit dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 kommt zur hausgemachten Regulierungswut auch noch der Einfallsreichtum der Brüsseler Beamtenschaft hinzu. Deren Regelwerke füllen tausende Seiten und sind nur mit enormem Aufwand zu administrieren. Die Bürokratie wirkt wie eine Schlinge um den Hals europäischer Unternehmer, die sich mit jedem Jahr enger zuzieht.

Europa ist wirtschaftlich weit hinter die großen Mitstreiter USA und Asien zurückgefallen, verliert technologisch an Terrain und muss sich ernsthaft Sorgen um den Erhalt des Wohlstands machen. Ist die Regulierungswut der EU daran schuld? Ja, sagt der Umweltrechtsexperte Stephan Schwarzer, und begründet das vor allem mit dem Green Deal. Das Regelwerk umfasst laut informierten Kreisen hundert oder mehr Rechtsakte, die im EU-Amtsblatt 36.000 Seiten füllen. „Dichte und Tempo des Green Deals stellen frühere Gesetzgebungen in den Schatten. Die Bilanz des Green Deals ist ernüchternd: kein Wachstum, kein Klimaschutz. “

Allein der Green Deal füllt im Amtsblatt der EU 36.000 Seiten.

Stephan Schwarzer, Umweltrechtsxperte

Schwarzer steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. Klaus-Heiner Röhl, Experte am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, reibt der EU weitere Regulierungen unter die Nase, die vor allem eines tun: die Wirtschaft bremsen. „Die Flut neuer bürokratischer Regelungen aus Brüssel ist beeindruckend. Hierzu zählen die CSRD-Richtlinie 2022/2464 zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, die allein in Deutschland neue Bürokratiekosten von über 1,6 Milliarden Euro verursachen wird.“ Der Papierkrieg geht den Betrieben ordentlich auf die Nerven. Die Unternehmen werden mit Dokumentationen gequält, „die ein weitgehend nutzloses, aber teures Berichtswesen erweitern“, wie der Thinktank Agenda Austria kürzlich analysierte.

Die Flut neuer bürokratischer Regelungen aus Brüssel ist beeindruckend.

Klaus-Heiner Röhl, Ökonom am Institut der deutschen Wirtschaft

Der damalige deutsche Justizminister Marco Buschmann meinte Anfang November anlässlich seines Rücktritts: „Der deutsche Gesetzgeber kann gar nicht so schnell Bürokratie abbauen, wie sie die EU derzeit nachproduziert.“ Tatsächlich kommen laufend neue Bürokratiemonster wie die Lieferkettenrichtlinie oder die Entwaldungsverordnung hinzu. Zu letzterer meint Umweltrechtsexperte Schwarzer. „Die EU will jeden Baum dieser Erde schützen. Ist der Baum, aus dem das Streichholz gefertigt wurde, in einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung gefällt worden? Stammt der Kautschuk für den Autoreifen aus nachhaltig geernteten Harzen? Ist das Rindfleisch für den Sugo entwaldungsfrei produziert worden? Unternehmen sind für den Schutz der Umwelt nach EU-Maßstäben rund um den Globus verantwortlich.“

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Zahlen & Fakten

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Wer nun glaubt, dass ein paar Öko-Taliban in der EU-Kommission allein dieses Schlamassel verursacht haben, der irrt. Viele absurde Details kommen erst durch die Verhandlungen der Kommission mit dem Europaparlament und dem EU-Rat in die jeweiligen Vorhaben. Deutschlands Nationaler Normenkontrollrat verweist darauf, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, Einspruch gegen einzelne Rechtsakte der Kommission zu erheben. Tun sie aber meistens nicht. Sie lassen Brüssel lieber machen und schimpfen anschließend über das Ergebnis.

2. Was die Bürokratie kostet

So viel zum Papiertiger EU, doch wie sieht es auf nationaler Ebene aus – insbesondere in Österreich? Zu diesem Thema forscht Christoph Schneider, Geschäftsführer des Wirtschaftsforschungsinstituts Economica. Sein Befund fällt kritisch aus:

„Die Belastung durch Bürokratie ist in Österreich besonders ausgeprägt, das zeigen alle internationalen Vergleiche und Standortrankings.“ Laut Schneiders Berechnungen kostet die Überregulierung zwischen 10 und 15 Milliarden Euro pro Jahr; das entspricht immerhin einem Anteil von 2,6 bis 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Haupttreiber sind Buchhaltung, Jahresabschluss, Steuererklärungen, Lohnverrechnung, Meldungen an die sowie Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten.

Neuer Index deckt Bürokratie auf

Schneider kann nun erstmals genau darüber Auskunft geben, wie Österreich mit seiner Regulierung im Vergleich zu anderen EU-Ländern dasteht. Konkret wurde im Auftrag der Industriellenvereinigung ein Regulierungsmaß entwickelt. Der Bürokratieindex besteht aus 25 Indikatoren, die aus diversen internationalen Quellen zusammengetragen werden. Aktuell erreicht Österreich Rang 11 von 27 EU-Mitgliedsländern und befindet sich mit 60 Punkten leicht über dem Score-Durchschnitt von 55 Punkten (von 100). Schneider ist Mittelmaß zu wenig: Österreich ist von den Spitzenreitern aus Skandinavien und dem Baltikum weit entfernt, betont er.

3. Wenn drei Behörden das Gleiche tun

Die unklaren Zuständigkeiten und Doppelgleisigkeiten sind einem Mann bestens bekannt, der sich jahrelang als Abgeordneter mit Regulierung beschäftigt hat und vor kurzem aus der Politik ausgeschieden ist. Ex-Neos-Abgeordneter Gerald Loacker hat für den Pragmaticus ein paar Beispiele aufgeschrieben, die zeigen, wie die Bürokratie blüht: „Wir leisten uns in Österreich beispielsweise drei verschiedene Register, in denen wir die Bewohner registrieren. Es gibt nach dem Meldegesetz ein zentrales Melderegister, in dem die Wohnsitze verzeichnet sind. Separat davon besteht ein Personenstandsregister, wo Geburt, Familienstand, Tod und Namensänderungen notiert werden. Beide führt das Innenministerium. Und als Drittes verantworten die Gemeinden die sogenannte Wählerevidenz. Drei Register für eine Bevölkerung müssen natürlich von einer angemessenen Zahl an öffentlich Bediensteten gewartet werden.“

Nicht viel anders sieht es bei Unternehmen aus, die sich mit einem Register der Finanzverwaltung einem Gewerberegister und dem Firmenbuch herumschlagen müssen, meint Loacker. Und überall steht eine Bürokratie dahinter, die ebenfalls finanziert werden will. Der Ex-Politiker kennt auch Beispiele, bei denen bürokratische Altlasten durch neue Regulierung ergänzt wurde. Loacker nennt die Auszahlung des Klimabonus durch das grün geführte Klimaministerium, weil politisch nicht gewollt war, dass das schwarz geführte Finanzministerium (BMF) die Steuerpflichtigen mit einer Zahlung beglückt. Dabei zählen Steuereingänge und -rückzahlungen zum Tagesgeschäft der Finanzverwaltung, das Klimaressort musste eigens neue Strukturen schaffen, „damit das grün geführte Ministerium in der Buchungszeile des Kontoauszuges aufscheint“.

Loackers These, warum trotz ständiger Versprechungen keine Entschlackung der Verwaltung erfolgt: „Das Problem ist, dass jene Menschen, die es in der Hand hätten, bürokratische Prozesse zu vereinfachen, zugleich die Nutznießer von mehr Bürokratie sind. Sie haben Personalhoheit, Entscheidungsgewalt, Informationsvorsprung. Das macht den Abbau von Bürokratie zu einer Form der Selbstbeschneidung. Und wer ist darin schon gut?“

Wirtschaft schafft Bürokratie

Doch Behörden und Politik sind – entgegen der verbreiteten Meinung – nicht die einzigen Verursacher von Überregulierung. Vielfach wuchert der Paragrafendschungel auf dem Nährboden, den die Kritiker selbst aufbereitet haben, weiß die Schweizer Wirtschaftsphilosophin Katja Gentinetta:

„Der Vorwurf der überbordenden Bürokratie kommt meist aus der Wirtschaft, die sich mehr Freiheit wünscht. Unternehmen möchten ihre Produkte entwickeln und auf den Markt bringen, ohne dafür zahlreiche Formulare ausfüllen und Genehmigungen einholen zu müssen. Beschwerden wegen der dadurch eingeschränkten Handlungsfreiheit und der damit verbundenen Kosten sind nachvollziehbar.

Oft sind es Unternehmen und ihre Lobbys selbst, die mit Vorschriften ihre Produkte schützen lassen.

Katja Gentinetta, Wirtschaftsphilosophin

Nur teilweise korrekt ist es hingegen, die Schuld dafür der Politik und der Verwaltung zu geben. Denn oft sind es die Lobbyisten von Unternehmen und Branchenverbänden selbst, die ein Interesse an spezifischen Vorschriften haben, um damit ihre eigenen Produkte zu schützen und Konkurrenten zu behindern. Deshalb ist es ein wenig unfair, die EU-Binnenmarktregeln als ‚Brüsseler Bürokratie-Monster‘ zu kritisieren. Der Sinn dieses Regelwerks besteht ja gerade darin, Produkte und Unternehmen im gesamten europäischen Markt zuzulassen, statt sie an den Landesgrenzen scheitern zu lassen. Insofern stellen diese Regeln nicht etwa Handelshemmnisse dar, sondern sie erhöhen die Möglichkeiten von Unternehmen, in anderen EU‑Ländern Fuß zu fassen. “

4. Was also tun?

Die Analysen von Economica zeigen, dass skandinavische Länder und die Niederlande Unternehmen das Wirtschaften weit weniger schwermachen als Österreich oder Deutschland. Wir sollten von den Besten lernen, meint Klaus-Heiner Röhl:

„Das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien hat schon vor etwa 15 Jahren begonnen, Gesetze nach dem ‚Better Regulation‘-Prinzip -einfacher und auch für Nich-juristen verständlich zu formulieren. Die Niederlande verfolgen ebenfalls einen ganzheitlichen Regulierungsansatz, der auf einfache Verfahren setzt und die Wechselwirkungen zwischen gesetzlichen Regelungen mit in den Blick nimmt. Die skandinavischen Länder setzen ebenso wie Estland auf die Digitalisierung ihrer Verwaltung und digitaltaugliches Recht, um Bürger und Unternehmen bei der Umsetzung zu entlasten.“

Fünf Rezepte zur Genesung

Davon abgesehen hat natürlich jedes Land seine ureigene Bürokratie-Geschichte und historisch entwickelte Eigenheiten. Was Österreich zur Entlastung der Unternehmen konkret tun könnte, hat der wirtschaftsnahe Thinktank Agenda Austria dokumentiert. Hier ein Auszug:

  • Gewerbeordnung entrümpeln: Die Befähigungsnachweise für Unternehmen behindern den Wettbewerb und müssen aufwendig administriert werden. Reglementiert werden sollen nur Berufe, von denen Gefahr für Menschen, Tiere und Umwelt ausgehen kann. Beispiele wären Augenoptiker, Zahntechniker oder Elektrotechniker. Kein Reglement brauchen hingegen Buchbinder, Friseure oder Floristen. Auch Öffnungszeiten und Gebietsschutz für freie Berufe gehören abgeschafft.
  • Vorabprüfung: Der Rechnungshof sollte Regulierungen nach britischem Vorbild auf Kosten und Wirksamkeit abklopfen.
  • One in, one out: Für jede neue Vorschrift muss eine alte gestrichen werden – auch hier ist Großbritannien Vorreiter.
  • Entgolden: „Gold Plating“ nennt man die Bemühungen, EU-Vorgaben bei der nationalen Umsetzung noch zu übertreffen. Österreich sollte sich das Vergolden sparen.
  • Abholzen: In vielen Fällen wird man ohne Axt nicht auskommen. Das Lieferkettengesetz oder die Entwaldungsrichtlinie sind nicht praktikabel und sollten eliminiert werden.

Eines ist klar: Angesichts zunehmender Standortverlagerungen und sinkender Wettbewerbsfähigkeit haben Europa und Österreich keine Zeit zu verlieren: Eine kompromisslose Entbürokratisierung ist dringend notwendig. Schließlich soll bald wieder die Wirtschaft und nicht die Verwaltung blühen.

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Conclusio

Ursache. Jede Bürokratie hat die Tendenz, aus sich selbst herauszuwachsen. So entsteht Überregulierung. Mit Österreichs Beitritt zur EU kam eine zusätzliche Verwaltungsebene hinzu, ohne dass national eine gestrichen wurde.
Wirkung. Die Folgen sind massiv. Überbordende Bürokratie lähmt Wirtschaft und Innovation und -verursacht hohe Kosten. Bis zu 15 Milliarden Euro pro Jahr kostet die Regulierung laut seriösen Berechnungen allein in Österreich.
Rezept. Für neue Regeln alte aussortieren, die Kosten von Gesetzen genau analysieren und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen: Das sind zentrale Punkte für Bürokratieabbau. Vielfach wird es ohne große Entrümpelung nicht gehen.

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