Otto von Habsburgs Weitblick
Bereits kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs warnte Otto von Habsburg vor dem imperialistischen Russland. Leider gab ihm die Geschichte Recht.
Otto von Habsburg (1912-2011) war Sohn des letzten österreichisch-ungarischen Kaisers und Zeit Lebens ein glühender Europäer. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er als Schriftsteller und Aktivist tätig. Als Autor, Redner und politischer Berater setzte er sich für die Einigung Europas ein. Für das deutsche Bundesland Bayern war er 20 Jahre lang Abgeordneter im Europäischen Parlament. Aber Otto von Habsburg war auch in seinem geopolitischen Denken seiner Zeit voraus, denn er warnte schon 1998 vor der möglichen Übernahme ehemaliger Sowjetstaaten durch Russland.
Als herausragendes politisches Talent mit umfassendem Wissen entwickelte Otto von Habsburg ein tiefes Verständnis für geopolitische Entwicklungen. Er war aufgeschlossen und akzeptierte abweichende Meinungen, ohne jemals Kompromisse bei seinen Grundüberzeugungen einzugehen. Er blickte jedoch stets in die Zukunft und war keine Geisel der vorherrschenden Denkweise und Haltung seiner Zeit. Diese intellektuelle Integrität hat seinen Schriften einen zeitlosen Wert verliehen.
Der unten zitierte Aufsatz wurde 2006 zusammen mit anderen Werken Otto von Habsburgs im Buch „Unsere Welt ist klein geworden. Die Globalisierung der Politik“ im Amalthea Signum Verlag, Wien, veröffentlicht.
In seinem Aufsatz schrieb Otto von Habsburg:
Alle Ereignisse der letzten Zeit haben die Bedeutung einer globalen Strategie in der aktuellen Politik unterstrichen. Hier zeigt sich wieder einmal die Schwäche unserer sogenannten Staatsmänner, die in entscheidenden Momenten die Bedeutung von Landkarten und deren Möglichkeiten vergessen.
Zwischen Kaliningrad auf der einen Seite und Tiraspol, der Hauptstadt des so genannten Transnistriens, auf der anderen Seite besteht eine gerade Linie. Beide Städte befinden sich an den Enden einer Zange, in deren Mitte die Ukraine liegt. Wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg, als der so genannte Polnische Korridor als wahrscheinlicher Auslöser eines internationalen Krieges galt, gilt dies auch heute für die beiden Städte von globaler Bedeutung.
Zeit für ein wehrhaftes Europa
Diese Überlegung ermöglicht es, die historische Bedeutung zu erkennen, die die Ukraine heute genießt. Dieses lange Zeit geteilte Land wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Gründung der Vereinten Nationen geeint.
Joseph Stalin hatte gefordert, dass die Ukraine als einheitlicher Staat mit dem Recht auf einen Delegierten und eine Stimme in den Weltorganisationen anerkannt wird. Die westlichen Mächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, kamen damals diesem Wunsch des Kremls nach, in der irrigen Annahme, dass während des Krieges vieles versprochen werden konnte, was am Ende von der herrschenden wirtschaftlichen Weltmacht korrigiert würde.
Die Ukraine ist ein rechtmäßiger Staat. Sie verfügt über eine bewundernswerte Bevölkerung. Gleichzeitig leidet sie an zwei entscheidenden Schwächen: zum einen an der Beeinflussung durch nicht-ukrainische Elemente, zum anderen an den Schwierigkeiten beim Aufbau ihrer Wirtschaft. Historisch gesehen waren die Ukrainer Soldaten, Beamte und Bauern, während die Wirtschaft überwiegend in den Händen von Juden lag [Juden waren in Europa über Jahrhunderte vom Grunderwerb und vielen handwerklichen Berufen ausgeschlossen]. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs und der Verbrechen des Hitler-Regimes wurden die Juden fast zur Gänze umgebracht.
Russischer Imperialismus
In der Zeit von Stalin bis Putin hat der russische Imperialismus stets das Ziel verfolgt, die Ukraine zurückzuerobern und Russland einzuverleiben. Um das Land für weitere Operationen gegen Polen und andere Teile Europas zu nutzen. Das macht die Ukraine zu einem kritischen Ort in Europa und ihre Integration in die EU notwendig.
Dieser Umstand wurde nicht ernsthaft bedacht und ist deshalb gefährlich. Er könnte heute noch korrigiert werden, wenn man bereit wäre, ein für alle Mal die Notwendigkeit einer echten europäischen Politik zu erkennen und nicht eine, die auf einen Kotau vor dem Kreml abzielt.
Die Ukraine ist kulturell, historisch und geistig Teil von Europa.
Man muss auch begreifen, dass die Ukraine kulturell, historisch und geistig ein Teil Europas ist. Ein Blick auf die deutschsprachige Literatur, insbesondere die des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zeigt, wie sehr der europäische Geist in diesem Gebiet gedieh.
Ostgalizien und die Bukowina waren Gebiete, die den Motor der europäischen Kultur und Literatur darstellten. Daher hat die Ukraine ein Recht auf Europa erworben, das sowohl von politischer als auch von sicherheitspolitischer Bedeutung ist. Diese Tatsache zu ignorieren, könnte zu einem dramatischen Fehler von historischem Ausmaß führen.
Die demokratische Reife und der Freiheitswille des ukrainischen Volkes haben sich 2004 im Kampf um den Sieg des Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko über den vorbestraften und von Moskau abhängigen Wiktor Janukowitsch gezeigt.
Bis zum Mittelmeer
Vor diesem Hintergrund ist eine Politik für die Zukunft erforderlich. Sollte sich die Lage in der Ukraine bessern, gibt es immer noch keine Garantie dafür, dass die imperialistische Politik Russlands nicht bald zu weiteren Krisen führt.
Warum Europa die Ukraine braucht
Was Putin und [der ehemalige ukrainische Präsident Leonid] Kutschma vorhatten, war offensichtlich. Mit dem massiven Betrug sollte ein Sieg Janukowitschs herbeigeführt werden, der dann als Erfolg für die Demokratie dargestellt worden wäre. Das Manöver zielte darauf ab, das politische Gleichgewicht in der Region zu verändern, wobei der nächste Schritt die offizielle Eingliederung der Republik Moldau in das russische System sein sollte. Damit würden die beiden kommunistisch kontrollierten Regionen Transnistrien und die Republik Gagausien zu offiziellen russischen Territorien, was den Staat Rumänien in Gefahr brächte.
Diese Abfolge von Ereignissen würde es Moskau ermöglichen, die Tür zum Balkan zu öffnen und damit den Weg zum Mittelmeer zu ebnen. Der einzige Grund, warum Stalin mit diesem Vorhaben scheiterte, war die Präsenz der starken US-Flotte im Mittelmeer.
Ukraine als Teil von Europa
Der Sieg von Herrn Juschtschenko ermöglicht nun eine friedliche Zone innerhalb der Region. Die heutige Herausforderung besteht darin, eine Wiederholung der vergangenen Krise zu verhindern. Den Ukrainern muss ein ausreichendes Maß an Sicherheit gewährleistet werden, damit sich das Land von der gescheiterten Politik Kutschmas erholen und mit den baltischen Staaten gleichgestellt werden kann.
Eine NATO-Mitgliedschaft, so wünschenswert sie auch sein mag, reicht leider nicht aus. Ein wirtschaftlicher Aufschwung ist nur möglich, wenn sich die Bevölkerung und ausländische Investoren sicher fühlen, wie die historische Erfahrung lehrt.
Die Kiewer Demonstrationen haben deutlich gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger eine Mitgliedschaft ihres Landes in der EU wollen. Sie haben auch gezeigt, dass sie die Demokratie wollen und bereit sind, dafür zu zahlen - mit ihrem Leben, wenn es nicht anders geht. Es wäre Zeitverschwendung, jetzt die Tiefe ihrer demokratischen Wünsche in Frage zu stellen.
Bislang war das Europäische Parlament immer der Motor des Fortschritts, während der Rat die Bremse war. Dieses Volksforum sollte sich seiner Vergangenheit würdig erweisen und in Bezug auf die Ukraine das Notwendige tun, um den Menschen in Europa zu vermitteln, was die Ukrainer mit ihrer Demonstration auf dem Hauptplatz bei eisigem Wind bezwecken.
Nehmen wir jedoch an, dass die Ukraine aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten nicht in der Lage ist, die Kopenhagener Kriterien einzuhalten. In diesem Fall soll Kiew eine sofortige Partnerschaft erhalten, um den Status eines Beitrittskandidaten zu erreichen. Das würde Russland zeigen, dass die Ukraine zu Europa gehört und nicht bereit ist, einen Freund und Partner aufgrund des Drucks aus Moskau zu verraten.