Die Mär von der Regionalität
Was wir essen, folgt nicht der Wissenschaft, sondern Erzählungen. Warum Regionalität oft schlechter für Umwelt und Klima ist – und wie wir es besser machen können.

Auf den Punkt gebracht
- Mythos des Alltags. Unsere Essgewohnheiten folgen kulturellen Mythen – nicht Fakten.
- Regionalitätslüge. Regional Produkte sind nicht automatisch nachhaltig – besonders nicht bei Fleisch.
- Industriemacht. Wenige Konzerne kontrollieren die Tierproduktion weltweit.
- Neuausrichtung. Pflanzliche Alternativen brauchen bessere Geschichten, nicht nur bessere Inhaltsstoffe.
Bei der Entscheidung, was wir essen, spielt der ökologische Fußabdruck selten eine Rolle. Stattdessen sind unsere sozialen Netzwerke, der Geschmack von Lebensmitteln, ihr Preis und ihr Gesundheitswert die wichtigsten Entscheidungsfaktoren.
Erzählungen, so alt wie die Zeit selbst, beschreiben idyllische ländliche Gegenden, in denen unsere Nahrung produziert wird – sie verdecken aber die Realität der Massentierhaltung und der ausgedehnten Weideflächen, die die einheimischen Wälder zerstören. Das Verstecken dieser Wahrheiten hat die Frage, was wir essen, wahrscheinlich noch stärker geprägt als Preis, Geschmack oder Bequemlichkeit.
Mehr im Dossier „Was darf ich noch essen?“
Marken und deren Erzählungen prägen unsere Wahrnehmung und unsere Entscheidungen, unabhängig davon, ob sie auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen oder nicht. Deshalb wird Coca-Cola nicht als Produkt gesehen, das Karies, Fettleibigkeit oder Plastikmüll verursacht, sondern als etwas, das Spaß, Glück und Jugend bringt.
Das ist auch der Grund, warum Fleisch und Milchprodukte fast überall, wo Sie leben, als lokale, natürliche Lebensmittel verkauft werden, die von hart arbeitenden Familien erzeugt werden. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um Produkte der Massentierhaltung, der Umweltverschmutzung, des Schadens und der Ineffizienz.
Die harte Wahrheit
Drei Viertel der weltweiten Viehbestände (und sogar 99 Prozent in den USA) werden in industriellen Massentierhaltungsbetrieben aufgezogen, während die meisten kleinen Familienbetriebe keinen Gewinn erzielen. Vier Unternehmen kontrollieren 99 Prozent des Weltmarktes für Hühnerzucht. Vier Unternehmen betreiben 75 Prozent der weltweiten Verarbeitungsanlagen und Schlachthöfe für Rinder, und weitere vier Unternehmen kontrollieren 70 Prozent der industriellen Schweineschlachtung. Seit 1960 hat sich die Zahl der als Lebensmittel produzierten Tiere mehr als vervierfacht. Weltweit werden jedes Jahr Billionen von Land- und Meerestieren getötet, und die Zahl wird voraussichtlich noch steigen, wenn wir nicht eine bessere Erzählung finden.
Die Innovationsversuche der vergangenen Jahre mit neuen pflanzlichen Produkten, die den Geschmack und die Konsistenz von Fleisch und Milchprodukten imitieren, wurden schnell als ultra-verarbeitet und unecht verunglimpft. Eine koordinierte Desinformationskampagne brachte die öffentliche Meinung gegen sie auf und setzte sie erfolgreich mit Junk Food gleich. Und das, obwohl es eindeutige Beweise dafür gibt, dass pflanzliche Fleisch- und Milchersatzprodukte für die Umwelt weit überlegen sind und Teil einer ausgewogenen, gesunden Ernährung sein können.
Früher dachte ich, dass der Kauf bei regionalen Metzgern oder Bauernhöfen der Gipfel der umweltfreundlichen Ernährung sei, trotz meiner typisch westlichen, fleischreichen Ernährung. Und mit dieser Ansicht war ich nicht allein. Zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass der Verzehr regionaler Lebensmittel besser für die Umwelt ist. Eine nachhaltige Ernährung, das bedeutet für 81,6 Prozent der Befragten einer deutschen Studie „in erster Linie lokale und regionale Produkte“. Und 78 Prozent der deutschen Verbraucher bevorzugen regionale Lebensmittel gegenüber Lebensmitteln aus anderen Ländern.
Was ist überhaupt Regionalität?
Aber was sind regionale Lebensmittel? Das ist ziemlich vage. In der größten Meta-Analyse zu diesem Thema werden regionale Lebensmittelsysteme durch geografische Nähe, verwandtschaftliche Beziehungen und gemeinsame Werte wie Frische und Rückverfolgbarkeit definiert. Aber die Wahrheit ist: Tiefkühlprodukte aus der Ferne sind oft nahrhafter und kostengünstiger sind als regionale Produkte.
Passt es zur so genannten „Locavore“-Bewegung, Hähnchen vor Ort zu kaufen, für die Soja in Brasilien angebaut wurde, um die Hühner zu füttern, die zusammen mit 40.000 anderen Tieren untergebracht sind und etwa 10 Prozent dieser Kalorien in Form von Fleisch wieder abgeben?
Aber die Wahrheit ist: Tiefkühlprodukte aus der Ferne sind oft nahrhafter und kostengünstiger sind als regionale Produkte.
Die harte Wahrheit ist, dass der Transport nur einen Bruchteil der Emissionen von Lebensmitteln ausmacht, während der größte Teil aus der Lebensmittelproduktion stammt – und zwar in unverhältnismäßig hohem Maße aus den Methanausstößen und Entwaldungen der Tierhaltung. Nur ein Prozent der Klimabilanz von Rindfleisch stammt aus dem Transportsektor oder höchstens 5 bis 8 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen vom Transport anderer Lebensmittel. Nur 0,16 Prozent der Lebensmittel werden auf dem Luftweg transportiert, der überwiegende Teil wird auf dem Wasserweg, auf der Straße und auf der Schiene transportiert, was sehr effizient ist.
99 Mal um die Welt – und trotzdem besser als Rind
Die Umstellung von rotem Fleisch auf pflanzliche Produkte an einem Tag pro Woche führt zu einer größeren Emissionsreduzierung als der Kauf aller regional erzeugten Lebensmittel. Ein Kilo getrocknete Erbsen müsste etwa 100 Mal um die Welt transportiert werden, bevor seine Treibhausgasemissionen denen eines Kilos Rindfleisch aus der Region entsprechen.
Doch mit der Zunahme globaler Krisen und gesellschaftlicher Instabilität nehmen nationalistische Gefühle zu, und regionale Lebensmittelsysteme gewinnen wieder an Popularität. Und Regierungen setzen sich weiterhin gerne für regionale Lebensmittel ein. Das U.S. Department of Agriculture hat gerade 1,13 Milliarden Dollar für regionale Lebensmittelprogramme angekündigt, die nichts gegen den größten Flächenverbrauch in Amerika unternehmen: die Tierhaltung. Kanadas Local Food Infrastructure Fund hat gerade ein 50-Millionen-Dollar-Programm abgeschlossen, das zu einem großen Teil den Wachstum von tierischen Lebensmitteln unterstützen wird. Gleichzeitig stellt ein von der Regierung finanziertes Institut fest, dass die Tierproduktion und Fischzucht der emissionsintensivste Sektor in Kanada ist.
Wir wissen auch, dass dieselbe Finanzierung von Lebensmitteln aus der Region mitverantwortlich ist für das drohende Aussterben gefährdeter Arten wie des Nordatlantischen Glattwals, das größtenteils auf die Verwicklung von Hummer- und Krabbenfanggeräten aus der Region zurückzuführen ist. Die jüngste Bewegung in Kanada, die auf die Handelskriegszölle von Präsident Trump reagiert, besteht darin, alles aus der Region zu kaufen. Doch die Steigerung des Konsums regionaler Fleischprodukte gegenüber neuartigen pflanzlichen Produkten aus Kalifornien oder sogar Linsen aus Westkanada ist der versteckte Zoll auf die Umwelt und die Ernährungssicherheit von morgen.
Vorbild China
Die „Farm to Fork“-Strategie der Europäischen Union (EU) zielt auf den Aufbau regionaler Lebensmittelsysteme durch die Förderung kürzerer Lieferketten ab. Sie enthält keine Angaben über den Anteil der Emissionen, die durch den Transport von Lebensmitteln entstehen, und auch nicht darüber, welche Lebensmittel die meisten Umwelt-, Gesundheits- und Sozialprobleme verursachen. Stattdessen investiert die EU viermal mehr Geld in die Tierhaltung als in den Anbau von Pflanzen.
In Costa Rica ist die Waldfläche zwischen 1940 und 1980 drastisch von 75 Prozent auf 29 Prozent zurückgegangen, was auf den Rindfleischexport für Fastfood-Ketten zurückzuführen ist. Bemerkenswerterweise hat sich die Waldfläche durch eine kluge Naturschutzpolitik, zum Beispiel Benzinsteuern zur Finanzierung der Wiederaufforstung, wieder auf über 75 Prozent erhöht. Doch jetzt drängt die Regierung auf die Ausweitung der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Weideflächen und könnte diesen Erfolg gefährden.
In China, wo 20 Prozent der Weltbevölkerung leben, ist die Ernährungssicherheit vor allem wegen des steigenden Fleischkonsums und der Abkehr von der traditionellen pflanzlichen Ernährung gefährdet. Im Jahr 2021 sind 27 Prozent des weltweiten Fleischkonsums auf China entfallen, vor allem durch Schweinefleisch, für das in großem Umfang Soja aus Brasilien benötigt wird. Anstatt jedoch den Mythos vom einheimischen, umweltfreundlichen Fleisch zu schüren, tut China das, was auch der Rest der Welt tun sollte: Es versucht, bei der Produktion gesunder und vielfältiger pflanzlicher Produkte weltweit führend zu werden.
Pflanzen werden keine Pandemie auslösen
In der Kultur der Locavore-Bewegung sind antikapitalistische und antimonopolistische Ideale verankert, insbesondere die Forderung nach Dezentralisierung. Dies mag zwar das stärkste Argument für den Kauf vor Ort sein, aber das Prinzip der Dezentralisierung muss sich nicht ausschließlich auf die regionale Beschaffung beziehen. Wir können genauso gut saisonale pflanzliche Lebensmittel und eine faire globale Verteilung dieser Lebensmittel unterstützen.
Auch wenn der Anbau pflanzlicher Lebensmittel riesige Monokulturen entstehen lässt und alles andere als ideal ist, so sind diese Monokulturen doch meist auf die hohe Nachfrage nach Tierfutterpflanzen zurückzuführen und nicht auf Lebensmittel wie Tofu, Tempeh oder Sojamilch. Und im Gegensatz zur industriellen Massentierhaltung werden pflanzliche Lebensmittel nicht die nächste Pandemie auslösen.
Lebensmittel und Kapitalismus vertragen sich nicht, und mit einem Anteil von weniger als ein Prozent am Bruttoinlandsprodukt der meisten Länder sind sie nicht einmal ein Wirtschaftsfaktor. Trotz der massiven Subventionierung von Fleisch und Milchprodukten mit unseren Steuergeldern wäre ein kollektiver Boykott von tierischen Produkten zugunsten von pflanzlichen Eiweißprodukten wie Sojabohnen, Erbsen, Linsen und Bohnen nicht nur viel billiger für uns alle im Supermarkt, sondern auch die beste Möglichkeit, unseren Planeten und unsere Gesellschaft zu verbessern.
Wir müssen Pflanzen geniessen lernen
Erzählungen, die auf Fakten beruhen, können uns vorantreiben. Kulturell ist die Vorstellung, dass regionale Lebensmittel von Natur aus nachhaltig sind, tief verwurzelt und wird oft nicht in Frage gestellt. Die Macht der Geschichte von glücklichen, lokalen und tierfreundlichen Tierfarmen hat sich in unsere moderne Kultur eingebrannt, und die Indoktrination beginnt bereits in der Kindheit.
Um die Akzeptanz einer pflanzlichen Ernährung, ob regional oder nicht, wirksam zu steigern, ist es entscheidend, die Attraktivität pflanzlicher Lebensmittel zu erhöhen. Und zwar, indem man sich auf die Sprache des Genusses und der sensorischen Erfahrung konzentriert, anstatt nur die gesundheitlichen oder ethischen Eigenschaften hervorzuheben – so wie es auch Coca-Cola macht.
Sicher, die Menschen kaufen Lebensmittel nicht wegen ihres ökologischen Fußabdrucks, aber wir richten unsere Entscheidungen an Erzählungen aus. Das Märchen von der Regionalität ist stark, aber es beruht auf einem Trugschluss. Gesunde und vielfältige pflanzliche Lebensmittel sind die einzige Möglichkeit, die Vorteile regionaler Lebensmittelsysteme zu nutzen.
Conclusio
Wahrnehmung. Konsumentscheidungen entstehen durch Bilder im Kopf, nicht durch Klimabilanzen. Nur wer die Macht der Erzählung erkennt, kann ihr entkommen.
Realität. Regional ist nicht immer umweltfreundlich – besonders, wenn Tierhaltung im Spiel ist.
Zukunft. Genussvolle pflanzliche Lebensmittel sind der Schlüssel zur Wende. Wir brauchen Geschichten, die nicht nur schmecken, sondern auch stimmen.