Tausche Religion gegen Bauchgefühl

Unsere Ernährung braucht weniger Verbote und mehr Gebote. Deren oberste lauten: Eigenverantwortung statt Ernährungsreligion, Bauchgefühl statt Kalorien-Schiedsrichter – und bitte zwischendurch einfach genießen.

Paula Bründl auf einem Feld. Das Bild illustriert einen Artikel über Ernährung nach Bauchgefühl und Eigenverantwortung.
Pauls Bründl: „Ernährung ist keine Glaubensfrage, sie hat nichts mit Ideologie zu tun.“ © Robert Maybach

Und plötzlich ist er da, der Appetit auf einen knackig-frischen Apfel. Oder der würzige Duft eines kurz angebratenen Stücks Rindfleisch. Oder die Verheißung eines selbst gemachten Kaiserschmarrns mit einem sonnensüßen Marillenröster.

Was soll ich jetzt tun? Ich kann mein Gedankenkarussell rotieren lassen: Wie viele Kalorien stecken da drin? Passt das in meinen mühsam zusammengeschnitzten Ernährungsplan? Ist das eh alles nachhaltig, politisch korrekt und lückenlos begütesiegelt?

Oder ich mache das Einfachste und Natürlichste der Welt: Ich höre auf meine somatische Intelligenz, also: auf meinen Bauch. Der ist nämlich der einzig wirklich kompetente Ernährungsberater, der mir bisher untergekommen ist. Er weiß – davon bin ich zutiefst überzeugt – am besten, welche Nährstoffe ich grad brauche. Wenn ich Appetit auf Apfel habe, dann ist Apfel vermutlich (die wissenschaftliche Evidenz ist hier noch nicht wasserdicht) genau jetzt das Richtige!

Wir lügen uns in die eigene Tasche

Es ist fast paradox: Da stattet uns die Evolution mit feinsten Sinnen und einem ausgeklügelten System für interne Kommunikation aus, das uns unmissverständlich sagt, ob wir Hunger haben, schön satt oder schon übervoll sind, ob uns etwas guttut oder Unbehagen auslöst. Und wir haben nichts Besseres zu tun, als diese geniale innere Stimme immer öfter auf stumm zu schalten. Wir studieren stattdessen Ratgeber über Ratgeber, lügen uns zwischendurch ein bisschen in die eigene Tasche, erstellen fleißig Kalorien- und Nährstofftabellen und hecheln den neuesten Ernährungstrends hinterher, immer auf der Suche nach dem absolut und allgemein gültigen Richtigen. Und wenn wir glauben, es gefunden zu haben, missionieren wir auch noch unsere Familie und Freunde.

Kulinarische Selbstgeißelung

Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin selbst in diese Falle getappt, weil auch ich dachte, dass meine Lebensfreude proportional mit der Anzahl an erfolgreich eingehaltenen Ernährungsregeln steigen würde. Das Gegenteil war der Fall, das zwanghafte Essen mit dem Schiedsrichter im Nacken und dem erfolgreich verdrängten Bauchgefühl machte mir das Leben schwerer. Und so führte mich meine kulinarische Selbstgeißelung von proteinreich über paleo, vegan und ketogen schnurstracks in eine hyperrestriktive Essstörung.

Manchmal muss man etwas Dummes tun, um gescheiter zu werden und zu erkennen: Es gibt kein ultimatives Richtig. Ernährung ist etwas zutiefst Individuelles. Was für mich gilt, muss nicht für andere gelten. Ernährung ist keine Glaubensfrage, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, dafür aber ganz viel mit etwas, das in unserer Gesellschaft grad ein bisschen in Vergessenheit gerät: Eigenverantwortung – in diesem Fall für mein persönliches Wohlbefinden und natürlich auch für meine Umwelt.

Ernährung ist etwas zutiefst Individuelles. Was für mich gilt, muss nicht für andere gelten.

Eigenverantwortung und Bauchgefühl – man könnte auch sagen: Hausverstand und Intuition – beantworten genau genommen alle kulinarischen, gesundheitlichen und ethischen Fragen, die mir beim Kochen und Essen durch den Kopf geistern. Sie sind gleichberechtigte Partner und ergänzen einander, der eine rational, der andere emotional. Wenn der eine in einer plötzlichen Heißhungerattacke nach Süßem schreit, obwohl mein Zuckerspeicher ohnehin prall gefüllt ist, dann entlarvt das der andere als hormonelle Falle und bewahrt mich damit vor einem allzu heftigen Schoko-Exzess. Sie helfen mir, abzuschalten, nebenbei auch den Appetitverderber Nummer eins: das schlechte Gewissen.

Wenn du sündigst, dann ohne Reue

Eigenverantwortung und Bauchgefühl sagen mir: Iss nicht zu viel und nicht zu wenig, möglichst langsam, möglichst in guter Gesellschaft, mit Menschen, die du magst, und möglichst bunt, also nicht immer das Gleiche! Und wenn du einmal sündigst, dann bitte ohne Reue – weil nichts sinnloser ist, als sich etwas Gutes mit schlechten Gefühlen zu verderben.

Außerdem: Genieße lieber etwas Selbstgekochtes mit frischen Zutaten statt geschmacksverstärkte, zu Tode verarbeitete Fertigprodukte, die den Namen Lebensmittel nicht mehr verdienen.

Lass dich nicht von der allgegenwärtigen Superfood-Lobby einkochen, vertrau lieber der Weisheit deiner Großmutter: Sauerkraut ist genauso gut oder noch besser als Kimchi, Leinsamen sind für unser seit zig Generationen darauf geschultes Verdauungssystem einfach bekömmlicher als Chia-Samen.

Gönn dir gern gutes Fleisch, aber nicht jeden Tag – und bitte alles zu seiner Zeit, also zum Beispiel keine Tomaten im Winter. Die schmecken im Sommer ohnehin viel besser. Eigenverantwortung und Bauchgefühl sagen mir auch: möglichst wenig wegwerfen. Da tue ich mir als gelernte Köchin natürlich leichter, weil intelligente Restlverwertung ein elementarer und auch wirtschaftlich relevanter Teil meines Handwerks ist (ein paar Rezepte dazu gibt’s übrigens in meinem neuen Kochbuch Endlich kochen).

Gegen alle Konventionen

Und bitte befrei dich vom Diktat des Mindesthaltbarkeitsdatums! Das bedeutet nämlich nicht „absolut tödlich ab …“, sondern ist lediglich ein Richtwert, ab wann etwas theoretisch verderben kann. Joghurt zum Beispiel hält erfahrungsgemäß viel länger. (Besonders bizarr: das Ablaufdatum für Salz, das Millionen von Jahren im Stollen gereift ist und dann plötzlich nicht mehr genießbar sein soll.)

Bevor ich beim Grillfleisch spare, spare ich lieber beim Griller.

Unmissverständlich ist auch die Antwort auf die Frage, ob ich Supersonderangebotsprodukte im Supermarkt nehmen soll oder etwas teurere, dafür aber umso kostbarere Lebensmittel vom kleinen Genusshandwerker ums Eck, von dem ich weiß, dass er seine Tiere und Pflanzen mit Respekt behandelt. Bevor ich beim Grillfleisch spare, spare ich lieber beim Griller.

Und dann noch das Wichtigste, obwohl ich damit heutzutage in manchen Kreisen fast schon als Exotin gelte: essen, was mir schmeckt! Im Restaurant ruhig einmal nicht das augenscheinlich gesündeste, nachhaltigste, moralisch einwandfreiste Gericht bestellen, sondern das verlockendste, genau das, worauf ich jetzt Gusto habe.

Wenn ich nicht nachdenke, nicht nachrechne, sondern aus vollen Zügen einfach nur genieße, dann fühlt sich das wie ein Befreiungsschlag an, gegen alle Zwänge und Konventionen, gegen den Gesundheitspapst und Moralapostel in mir. Was nützt es schon, wenn wir immer das Richtige tun wollen und uns dabei nie richtig gut fühlen?

Und so ein Befreiungsschlag, das weiß ich aus eigener Erfahrung, schmeckt ausgezeichnet!

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