Ihre letzten Sommer

Das Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren haben alpine Kältespezialisten wie das Murmeltier noch weggesteckt. Die jetzige Erwärmung werden sie nicht überleben.

Ein Murmeltier vor dem Panorama einer schneebedeckten Bergkette im Gebiet des Großglockner. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Wirkung des Klimawandels auf die Wildtiere der Alpen.
Ein Alpenmurmeltier: Es braucht kühle Sommer, um ausreichend Nahrung zu finden und im Winter eine Schneedecke über dem Bau, um den Winterschlaf durchzustehen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Angepasst. Murmeltiere, Gämsen und Steinböcke sind Kältespezialisten, hohe Temperaturen bringen sie an ihre physiologischen Grenzen.
  • Ausweichen. In höheren und kühleren Lagen der Alpen ist das Nahrungsangebot geringer. Die Populationen der kältebedürftigen Wildtiere werden kleiner.
  • Nachrücken. Nicht nur Steinböcke und Gämsen wandern nach oben, sondern auch Rehe und Hirsche – ihre Populationen werden wachsen.
  • Perspektive. Das Aussterben von Arten gehört zur Evolution, doch erstmals ist der Mensch verantwortlich, und es betrifft seine eigenen Lebensräume.

Der Klimawandel ist in den Kaltregionen der Erde, in arktischen Gebieten und im Hochgebirge, wo mit Abstand die stärkste Erwärmung verzeichnet wird, am deutlichsten. Wie geht es den Wildtieren mit dem dramatischen Anstieg der Temperaturen in ihrem Lebensraum? Haben sie eine Zukunft?

Die Zukunft der Alpen

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass die physiologischen Eigenschaften und das Verhalten wild lebender Säugetiere und Vögel, die dauerhaft die Kaltregionen der Erde besiedeln, maßgeblich durch die Lebensbedingungen der Eiszeit geprägt wurden. Die enorme Selektionswirkung langer, kalter und schneereicher Winter, die nur kurz von kühlen Sommern unterbrochen waren, brachten extreme evolutionäre Anpassungen hervor, die diese Tiere befähigten, mit dem Klima der eiszeitlichen Welt zurechtzukommen.

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Spezialist für Eis und Erdarbeiten: Ein Murmeltier auf dem Großglockner. (c) Getty Images

Wie sehr diese Einschätzung zutrifft, zeigt die Verbreitung von Murmeltieren und Gämsen in Europa zum Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren. Fossilfunde belegen, dass Murmeltiere im ganzen eisfreien Mitteleuropa vorkamen, selbst in der Gegend des heutigen Ärmelkanals, wo zu der Zeit aufgrund des wesentlich niedrigeren Meeresspiegels eine Landverbindung zu den britischen Inseln bestand.

Die Alpenregion war damals eine für größere Tiere unbewohnbare Eiswüste. Nur die Gipfel ragten als sogenannte Nunataker aus dem Eisschild, das alle Täler füllte und bis weit in das Alpenvorland reichte. Der Rest des eisfreien Mitteleuropas war ein baumlose, windige Kaltsteppe.

Mit der Erwärmung und dem Abschmelzen der riesigen Gletscher entstand eine ganz andere Welt. Der Wald wurde zum dominierenden Element der Biosphäre tiefer gelegener Landstriche, und die Eiszeitgeschöpfe folgten ihrem Lebensraum, der bei uns nur noch in den Hochlagen der Alpen über der Baumgrenze verblieb.

Im Zuge des Klimawandels schwinden diese Rückzugsgebiete weiter. Doch warum ist eine wärmere Welt für Murmeltier, Gams und Co von Nachteil? Die höchste Sterblichkeit haben all diese Arten im Winter. Es müsste ihnen doch besser gehen, wenn die Winter kürzer und milder werden?

Einige passen sich an ...

In der Tat gibt es Beispiele dafür, dass das so sein kann. Eine Langzeitstudie (1976–2006) an einer Population amerikanischer Gelbbauch-Murmeltiere, die in den Rocky Mountains in Colorado in 3.000 Meter Seehöhe lebt, zeigte, dass die milderen Winter ab der Jahrtausendwende die Winterschlafdauer der Tiere verkürzten. Dadurch hatten sie eine längere Sommerzeit, in der sie mehr Fettreserven ansammeln konnten. Sie überlebten den Winter besser, die Population wuchs.

Gelbbauch-Murmeltiere sind aber eine ziemlich flexible Art, die in den Hochgebirgen ebenso vorkommt wie in tieferen Wüstengebieten. Bei den viel stärker an kalte Lebensräume angepassten Alpenmurmeltieren kamen ähnliche Studien zu ganz anderen Befunden. Für die Murmeltiere der französischen Alpen fanden Kollegen zwischen 1990 und 2010 eine kontinuierlich geringer werdende Fruchtbarkeit.

In den Jahren 1982 bis 1995, als wir unsere Studie im Nationalpark Berchtesgaden durchführten, ging es den Murmeltieren dort noch prächtig, aber als ich im Vorjahr dort war, waren die Murmeltiere aus den sonnenexponierten Südlagen auf etwa 1.000 Meter Seehöhe verschwunden. Den Grund konnten wir schon vor 30 Jahren identifizieren, zu einer Zeit, als noch kaum jemand an die Möglichkeit eines menschengemachten Klimawandels dachte.

... die Spezialisten verschwinden

Wir hatten uns damals die Frage gestellt, warum Murmeltiere nicht unter 800 Meter Seehöhe vorkommen und Kolonien bilden, obwohl es doch auch dort scheinbar geeignete Gebiete gibt. Die Kombination von Verhaltensbeobachtungen, Daten zum Mikroklima des Lebensraums sowie den Körpertemperaturen erbrachte eine eindeutige Erklärung: Für Alpenmurmeltiere sind Gebiete unterhalb von 1.000 Metern im Sommer schlichtweg zu heiß.

Eine Gans steht auf einem Fels in einem alpinen Wald.
Eine Gams in den italienischen Alpen im Nationalpark Gran Paradiso. Das Bild wurde 2013 aufgenommen. © Getty Images

Nun ist Sommerhitze auch in den Hochlagen keine Seltenheit, zumal die Strahlungsintensität mit der Höhe zunimmt. Murmeltiere entziehen sich dieser Belastung durch Rückzug in ihre kühlen Baue. Ist die heißeste Tageszeit vorbei, kommen sie wieder heraus.

Das Ganze hat einen Haken: Murmeltiere sind ausschließlich tagaktiv. Sie können nachts nichts sehen und somit die Kühle nicht zur Nahrungsaufnahme nutzen. An heißen Tagen bleiben ihnen dafür nur die Morgen- und späten Nachmittagsstunden. Erzwingt Hitze einen überlangen Rückzug in den Bau und herrschen solche Bedingungen über längere Zeit, können die Tiere während des Sommers nicht fett genug werden, um den sechs- bis siebenmonatigen Winterschlaf, den sie Ende September beginnen, zu überstehen.

Im Winterschlaf kommt heute noch ein Problem für die Murmeltiere hinzu: Kälte. Die Schneefallperiode in den Alpen hat sich durch die Erwärmung signifikant verschoben. War eine geschlossene Schneedecke über der Baumgrenze ab etwa Anfang November früher die Regel, so ist sie heute die Ausnahme. Boden, der bis zum Jahreswechsel ohne isolierende Schneedecke ist, kühlt rascher aus. Die im tiefen Winterschlaf befindlichen Murmeltiere müssen ihre Wärmeproduktion erhöhen, um nicht zu erfrieren. Der somit höhere Energie- und Fettverbrauch gefährdet das Überleben bis zum Frühjahr.

Am Gipfel der Anpassung

Auch für andere Kältespezialisten wie Gämsen und Steinböcke ist die Sommerhitze das größte Klimaproblem. Sie überhitzen leicht, weil selbst ihr Sommerfell gut isoliert und sie nur sehr eingeschränkt oder gar nicht schwitzen können. Deshalb weichen sie hohen Temperaturen durch Rückzug in höhere, kühlere Lagen aus. Die für sie nutzbare Fläche nimmt jedoch mit zunehmender Höhe exponentiell ab. Am Gipfel ist der Berg schlicht zu Ende.

Ein Alpensteinbock auf felsigem Gelände in den Alpen.
Ein männlicher Alpensteinbock in der Nähe der Pasterze bei Heiligenblut. © Getty Images

Hochgerechnet auf das gesamte Alpengebiet, würde eine Verschiebung des klimatisch geeigneten Lebensraums um 100 Höhenmeter nach oben eine Reduktion der für Gämsen verfügbaren Äsungsfläche um beinahe die Hälfte bedeuten. Dazu kommt, dass die Zeitfenster mit Temperaturen, die Bewegung und Nahrungsaufnahme erlauben, selbst in Hochlagen kleiner werden. Gämsen sind im Sommer bei Umgebungstemperaturen um die 10 Grad am aktivsten. Bereits ab 15 Grad nimmt die Aktivität deutlich ab und kommt ab 30 Grad völlig zum Erliegen. Auch im Hochgebirge wird dieser kritische Bereich selbst bei kühlen Lufttemperaturen in der Sonne schnell erreicht.

Eine Verlagerung der Nahrungsaufnahme in die Nacht kann die erzwungenen Fresspausen während des Tages nicht kompensieren. Besonders stark wirkt sich das auf die Muttertiere aus. Dass Gamskitze mittlerweile schlechter wachsen und bis zum Herbst nicht mehr so groß werden wie früher, ist sehr wahrscheinlich eine Folge der durch Hitzeperioden beeinträchtigten mütterlichen Milchproduktion.

Die Auswirkungen zu heißer Sommer sehen wir wieder in der Wintersterblichkeit, denn alle Kältespezialisten sind im Winter auf Fettreserven angewiesen, die sie sich im Sommer anfressen. Gehen die Reserven zur Neige, bevor wieder frisches Grün zu sprießen beginnt, droht nicht nur das Verhungern. Geschwächte Tiere sind auch anfälliger für Krankheiten und Parasiten. Die berüchtigte Gamsräude etwa, die ganze Populationen ausrotten kann, schlägt besonders in den späten Wintermonaten zu. Hitzebedingte Ortswechsel machen auch anfälliger für Raubfeinde: So sind Steinböcke, die sich im Sommer in höhere Lagen zurückziehen, einem höheren Prädationsdruck durch den Wolf ausgesetzt.

Rehe statt Steinböcke

Bleibt die Frage, was mit den Lebensräumen geschieht, wenn die Kältespezialisten verschwinden. Sie werden von Arten besiedelt, die eigentlich in wärmeren Lebensräumen zu Hause sind. Feldhasen zum Beispiel rücken in den Alpen bereits in Höhen vor, wo vor Jahrzehnten noch ausschließlich Schneehasen lebten. Rothirsch und Reh füllen die Lücken von Gams und Steinbock.

Den Beleg dieser Entwicklung erbringen unter anderem die Jagdstatistiken, die seit mehr als 150 Jahren großflächig geführt werden. Demnach lagen im Schweizer Kanton Graubünden in der Dekade 2002 bis 2013 die Erlegungsorte bei Steinböcken um durchschnittlich 135 Meter, bei Gämsen um 95, bei Rothirschen um 80 und bei Rehen um 30 Meter höher als noch in der Dekade 1991 bis 2001.

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Zahlen & Fakten

Eine Gams geht im Gegenlicht der Sonne einen Berg hinauf, sodass sie nur als Schattenriss erkennbar ist
Eine Gams in den französischen Alpen. © Getty Images

Diese mit sehr großer Stichprobengröße belegten Zahlen zeigen, wie schnell (innerhalb von nur zehn Jahren) sich Steinböcke und Gämsen in deutlich höhere Regionen zurückzogen und Rothirsche und Rehe nachrückten. Die Jagdstatistik sagt uns auch, wie viele Tiere noch da sind: In Österreich und in der Schweiz stieg die Zahl erlegter Gämsen noch bis Anfang der 1990er-Jahre, um seither stetig zu sinken. Heute werden bei unveränderter Jagdpraxis 30 Prozent weniger Gämsen erlegt.

Das traurige Fazit ist, dass wir das Verschwinden der Kältespezialisten wohl nicht mehr aufhalten können. Wir bedauern das und empfinden die schwindende Biodiversität als Verlust. Für die Natur ist dies letztlich aber egal. Natürliche Gleichgewichte sind stets im Fluss. Von allen Tier- und Pflanzenarten, die jemals die Erde besiedelten, lebt heute nur noch ein Bruchteil. Dass Arten entstehen und wieder verschwinden, ist der Kern der nie innehaltenden Evolution.

Aber erstmals in der Geschichte des Lebens auf der Erde ist eine Art, nämlich der Mensch, für ein Massensterben verantwortlich. Hoffentlich lehrt uns das, die richtigen Schlüsse zu ziehen, denn letztlich sägen wir den Ast ab, auf dem wir sitzen.

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Conclusio

Wenn die Kältespezialisten unter den Säugetieren der Alpen sich nicht mehr an veränderte klimatische Bedingungen anpassen können, ist das ein Indikator für das Ausmaß der Veränderungen, die angestoßen wurden. Andere Arten wie Reh oder Hirsch werden nachrücken, werden aber die Lücken, die Steinböcke oder Gämsen hinterlassen, nicht ausfüllen. Es ist ein Transformationsprozess, der Ökosysteme in ihrer Ganzheit umfasst.

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