Wen der Berg ruft

Jedes Jahr machen rund 120 Millionen Menschen Urlaub in den Alpen. Der Alpentourismus gehört zu den wichtigsten Einnahmequellen der Region. Damit das so bleibt, muss sich einiges ändern.

Das Bild zeigt eine Hütte in den Alpen. Vor der Hütte sitzen Wanderer. Das Bild illustriert einen Artikel über die Zukunft des Alpentourismus.
Der Tourismusforscher Mike Peters sieht Nachhaltigkeit und längere Saisonen als Chancen für die Tourismuswirtschaft. © Claudia Fakler / Alamy Stock Photo
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Auf den Punkt gebracht

  • Exklusive Anfänge. Die Alpen haben sich von einem exklusiven Reiseziel für Privilegierte zu einem Hotspot des Massentourismus entwickelt.
  • Wertschöpfung. Mit 20 Milliarden Euro direkter Wertschöpfung ist der Tourismus eine wichtige Säule der Wirtschaft der Alpenregion.
  • Schmale Schultern. Es sind Familienbetriebe, die die Hauptlast tragen und mit hohen Kosten, Nachfolgeproblemen und Arbeitskräftemangel kämpfen.
  • Zukunftschancen. Zur Sicherung des Alpentourismus sind ganzjährige Angebote, regionale Entwicklungsstrategien und Nachhaltigkeit erforderlich.

Ferien in den Bergen? Auf so eine verwegene Idee kamen früher nur wenige Menschen. Bis ins frühe 19. Jahrhundert reisten vorwiegend Privilegierte und Abenteurer in die Alpen. Erst gegen Ende desselben Jahrhunderts entwickelten sich professionelle Kur- und Sommerfrische-Destinationen wie Meran oder Bad Ischl.

Die Zukunft der Alpen

Der stetige Ausbau von Verkehrswegen stellte einen zusätzlichen Treiber der Reisenachfrage dar. Mit ersten Hotels, Hütten und Seilbahnanlagen entwickelte sich in den Bergen eine Freizeitinfrastruktur, die auch vom gehobenen Bürgertum in Anspruch genommen wurde. Ihren großen Aufschwung erlebte die Tourismuswirtschaft der Alpen jedoch erst im 20. Jahrhundert. Vor und zwischen den Weltkriegen etablierten sich Destinationen wie St. Moritz oder Kitzbühel als mondäne Wintersportdestinationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich eine breit aufgestellte Tourismuswirtschaft.

Heute besuchen jedes Jahr ungefähr 120 Millionen Menschen die Alpen – von der Schweiz bis nach Slowenien. Für viele Regionen stellt der Tourismus eine der wichtigsten Einnahmequellen dar. In Tirol beispielsweise werden 17 Prozent des BIP von Urlaubern generiert (in Gesamtösterreich sind es sieben Prozent).

Die Wertschöpfung durch den Tourismus beträgt 20 Milliarden Euro im Jahr. Doch das Geschäft hat seine Tücken.

Zum Alpenraum gehören die Regionen Bayern, Ost-, Süd-, Westösterreich, Centre-Est Méditerranée in Frankreich, Nordosten, Lombardei und Nordwesten in Italien, Liechtenstein, Monaco, Slowenien und die Schweiz.

2022 wurden rund 546 Millionen Nächtigungen verbucht. Damit gelang es der Tourismusindustrie in der Alpenregion beinahe, an das Niveau vor Corona mit zuletzt 577 Millionen Nächtigungen anzuknüpfen. Der touristische Konsum beläuft sich derzeit auf rund 35 Milliarden Euro, die direkte Wertschöpfung auf 20 Milliarden. Doch das Geschäft mit der Urlaubsfreude hat seine Tücken: Etwa 90 Prozent der Unternehmen sind Familienbetriebe, und die meisten haben nur wenige Mitarbeiter.

Klein, aber o weh

Das erhöht zwar die Flexibilität, hat aber auch eine Reihe von Nachteilen. Produktions- und Infrastrukturkosten sind in kleinen Betrieben hoch. Deshalb bringen sich Unternehmer oftmals selbst operativ ein und versuchen durch ihre Leistungen, Kosten zu senken. Strategische Überlegungen kommen dabei häufig zu kurz. Familienunternehmen stehen also unter hohem Druck, ihr Unternehmen in die nächste Generation zu führen.

Diese Nachfolger sind oftmals nicht in Sicht. Laut Schätzungen stehen allein in Österreich bis Ende des Jahrzehnts 8.000 Übergaben im Gast- und Beherbergungsgewerbe an. Die nachfolgende Generation hat aber oft wenig Interesse an diesen Betrieben. Das führt in vielen ländlichen Gebieten zur Schließung von Gasthöfen – mit allen sozialen und kulturellen Folgen für die Region.

Oft scheitern Übergaben, weil die Nachfolge schlecht geplant war. Doch in vielen Fällen wollen die Jungen auch deshalb nicht einsteigen, weil die Unternehmen wirtschaftlich nicht attraktiv sind. Viele Tourismusbetriebe leiden unter einer hohen Schuldenlast; die Tilgungsdauer liegt im Schnitt bei zehn Jahren. In anderen Fällen stehen teure Sanierungs- und Erneuerungsmaßnahmen bevor, und die Lohn- und Energiekosten sind hoch. All das sind schlechte Voraussetzungen, um der Tochter oder dem Sohn eine Übernahme schmackhaft zu machen.

Ramponiertes Image

Eine weitere zentrale Herausforderung ist die Suche nach Personal. Im Jahr 2023 hätte man zum Beispiel allein in Bayern rund 45.000 zusätzliche Arbeitskräfte benötigt, um den üblichen Top-Service bieten zu können; in der Schweiz fehlten etwa 6.400 Mitarbeiter. Die Personalsuche im Tourismus ist schon lange schwierig, weil die Branche als Arbeitgeber nicht den besten Ruf genießt. Die Pandemie hat diese Probleme verschärft. Durch Lockdowns und andere Einschränkungen wurde auch noch das Image als sicherer und zuverlässiger Arbeitsplatz ramponiert.

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Zahlen & Fakten

Eine Gruppe von Männern und Frauen spaziert mit Sonnenschirmen und Stöcken ausgestattet auf einem Gletscher. Die Frauen tragen lange Kleider und die Männer Hut und Gehrock. Das Foto stammt aus dem 19. Jahrhundert und zeigt eine Form des frühen Alpentourismus.
Ein Gletscherspaziergang auf dem Mer de Glace bei Chamonix im 19. Jahrhundert. Diese Gäste mussten noch mit Lastesel auf knapp 2.000 Meter anreisen. Am 9. August 1908 jedoch wurde die erste Bahnstation beim Chamonix-Gletscher eröffnet. © Getty Images

Meilensteine des Alpentourismus

  • Erschließung: Eisen- und Zahnradbahnen ­erschließen ab 1880 die Berge für den Tourismus. Die betuchten Gäste der Belle Époque erschaffen rund 100 Touristenorte, vor allem in der Schweiz. Der neu gegründete Alpen­verein baut Wanderwege und Hütten.
  • Zwei Saisonen: Von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er-Jahre erobert erstmals die Mittelschicht die Berge, und der Winter wird zur zweiten touristischen ­Saison. Seilbahnen und Skilifte ­erschließen die Höhen, ­übernachtet wird nicht nur im ­Hotel, sondern in Privat­zimmern und Pensionen.
  • Boom und … Die Jahre 1955 bis 1983 ­beschreibt der Kulturgeograf Werner Bätzing als „Gold­gräber­zeit“. Sie bringt den Wintermassentourismus, die Erfindung des monothematischen „Skiorts“ und Groß­anlagen: Skilifte, Pisten, Apartmentkomplexe und Resorts.
  • … Bust mit Fun: Globalisierung und Billigflieger bremsen ab den 1990ern das Wachstum, aber das ­Mountainbike mildert diese Phase der Stagnation im ­Alpentourismus etwas ab.

Ein großer Teil der Angestellten im Tourismus nützte die Corona-Pause zur beruflichen Neuorientierung. Studien belegen in nahezu allen Alpenländern, dass niedrige Löhne, viele Überstunden, geringe Planbarkeit und vor allem Perspektivlosigkeit die Attraktivität von Jobs im Tourismus schmälern und zu einer sehr hohen Fluktuation führen. In den Alpenländern verlassen jährlich bis zu einem Viertel aller Beschäftigten die Branche. Seit Corona gibt es zudem weniger Neueinsteiger.

Ein Aspekt dieses Problems ist die Saisonalität, die besonders im Alpentourismus zu einer Schieflage des Arbeitsangebots führt. Mitarbeiter werden in Wintersportregionen von November bis April gesucht, danach gibt es für sie oft keinen Bedarf mehr, weil zahlreiche Betriebe während der Sommermonate geschlossen bleiben. Das Kontingent an Saisonniers (in Österreich handelt es sich um etwa 7.000 Personen) genügt nicht mehr, um diese Nachfrage zu decken. Es mangelt in vielen Regionen an Ganzjahresjobs mit entsprechenden Karriereperspektiven.

Verschobene Ströme

Auch das veränderte Reiseverhalten nach der Pandemie verlangt den Unternehmen im Tourismus einiges ab: Die Gäste wollen flexible Stornobedingungen, sind sparsam bei Zusatzleistungen wie Verpflegung oder Eintrittsgeldern und fordern sowohl Sicherheit als auch Nachhaltigkeit des Angebots. Der Mitarbeitermangel und die Nachfolgeproblematik, aber auch der Wunsch vieler Gäste nach Alternativen zu einem Hotelurlaub verändern die Beherbergungslandschaft: Apartments und Chalets sind oft günstiger als Hotelzimmer und verursachen für den Anbieter deutlich weniger Personalbedarf. In der Folge entwickeln sich bereits neue Investorenmodelle wie etwa Buy-to-let.

Aus wirtschaftlicher Sicht könnten sich aus all diesen Trends auch Chancen ergeben. So ist zwar davon auszugehen, dass sich Touristenströme durch den Klimawandel verschieben und sich das Wintersportangebot verändern muss. Jedoch bieten die Alpen auch Abkühlung und Zuflucht für jene Gäste, die der Hitze in den Städten entfliehen und die Ferien nicht in traditionellen Sommerdestinationen verbringen möchten.

Das Bild zeigt eine Mountainbike-Fahrerin in den Alpen im Bikepark von Tignes in Frankreich.
Mountainbiken im Bikepark von Tignes in Frankreich. © Getty Images

Die klimatischen Veränderungen können auch zur Verlängerung der Saisonen führen. Mountainbiking im Mittelgebirge, nur als Beispiel, ist manchmal bis in den November hinein möglich. Was muss geschehen, um der Tourismuswirtschaft in den Alpen eine sichere Zukunft zu bieten?

Alpentourismus: Die Zukunftsliste

  • Langfristig gilt es, die Branche für Arbeitskräfte und Unternehmensnachfolgen attraktiver zu machen. Seit ein paar Jahren wird versucht, mit guten Marketingkampagnen Arbeitnehmer und Lehrlinge für den Tourismus zu begeistern.
  • Notwendig wären jedoch auch inhaltliche Anpassungen, um die Ausbildung und die Karriereperspektiven mit spannenden Herausforderungen wie Digitalisierung (KI), Nachhaltigkeit (Monitoring) oder Innovationsmanagement (Innovationen und Neuproduktentwicklungen) zu verbinden. Destinationsmarketing kann dabei helfen: So entwickelte etwa die Region Wilder Kaiser ihr Konzept „soulful working – loving tourism“, das die Destination als Asset auch für Arbeitnehmer hervorhebt. Die Region verbindet die Arbeitgeber in der Region und bietet vielfältigere Ausbildungsprogramme und eine bessere Vernetzung der Anbieter.
  • Die Entwicklung eines ganzjährigen touristischen Angebots ist für viele Alpenregionen eine strategische Notwendigkeit. Sie macht touristische Jobs attraktiver und gewährleistet eine Nachfrage von Gästen auch abseits der traditionellen Saisonen.
  • Es braucht neue Konzepte zur Revitalisierung von Gasthäusern. Sie dienen ja nicht nur dem Tourismus, sondern sind auch für die Einheimischen als Kommunikationszentren wichtig. Was alles möglich ist, zeigt das Beispiel des Wirtshauses „s’Hutwisch“ in der Buckligen Welt. Einheimische haben hier eine Genossenschaft zur Rettung des Gasthauses gegründet.
  • Regionalentwicklungskonzepte müssen langfristig abwägen, wie viel Tourismus gut für eine Gegend ist. Der Fremdenverkehr hat in vielen einst bitterarmen Tälern zu großen Erfolgen geführt, aber auch starke Abhängigkeiten verursacht. Ein gesunder Branchenmix schafft Jobs für Einheimische und kann Landflucht verhindern.
  • Nachhaltigkeitskonzepte sichern den Tourismus. Auch wenn die meisten Alpenbesucher mit dem Auto anreisen, so schätzen sie doch die Bemühungen der Gastgeber um einen umweltfreundlichen, ressourcenschonenden Urlaub. Ein besonders erfolgreiches Beispiel dafür ist etwa die Initiative „Slovenia Green“.
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Conclusio

Vom exklusiven Reiseziel für Wohlhabende im 19. Jahrhundert hat sich der Alpentourismus zu einer tragenden Wirtschaftssäule mit 120 Millionen jährlichen Besuchern entwickelt. Familiengeführte Betriebe sind jedoch mit Nachfolgeproblemen, hohen Kosten und operativem Druck konfrontiert. Arbeitskräftemangel, schlechtes Branchenimage und die Pandemiefolgen verstärken den Druck. Die Branche muss auf ganzjährige Angebote, verbesserte Arbeitskonditionen und innovative Marketingstrategien setzen, um Nachhaltigkeit und Attraktivität zu steigern und den Herausforderungen wie Klimawandel und veränderten Gästebedürfnissen zu begegnen.

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