Verantwortung in Freiheit

In den Alpen lernt man, dass frei sein nicht bedeutet, dem eigenen Ego zu folgen.

Am Mont Blanc im Juli 2024. Der ezeigte Bereich ist eine sogenannte Akkumulationszone, der Schne nährt den Gletscher. Das Mer de Glace hat seit 1993 800 Meter Länge und 120 Meter Dicke eingebüßt. Das Bild ist Teil eines Essays von Ana Zirner über Verantwortung und Freiheit im Rahmen eines Schwerpunkts über die Alpen.
Am Mont Blanc im Juli 2024. © Getty Images

Ich falle. Meine Füße sind so schnell in der Luft, dass mein Bewusstsein nicht hinterherkommt. Gleichzeitig zerdehnen sich die folgenden Sekunden und meine Wahrnehmung löst sie in einzelne Bilder auf. Da ist der schmale Wanderweg hinter mir, auf dem ich gerade noch gegangen, und dann wohl gestolpert bin. Und da ist die Tanne, die sich in meinem Flug nähert und dahinter der Abgrund, der tief – zu tief – ist.

Mein Hirn funktioniert klar und pragmatisch. Ich muss mich halten. Jetzt. Vor der Tanne. Ich überschlage mich noch einmal. Ich muss bremsen. Kopf schützen. Auf den Bauch drehen. Füße in den Hang stemmen. Liegestützposition, wie bei den Fallübungen am Gletscher. Geschafft. Liege ich stabil? Stabil. Bin ich ganz? Alles dran. Laut sage ich jetzt immer wieder zu mir selbst „Alles ist gut. Alles ist gut. Alles ist gut.“ Langsam und vorsichtig klettere ich zum Wanderpfad zurück.

Ich setze mich hin und augenblicklich wird mir schwindlig und alles an mir fängt an zu zittern. Ich bemühe mich, bewusst und tief in meinen Bauch zu atmen. Vor mir summt eine Biene auf dem Weg zu ihrer nächsten Blüte. Es ist alles gut. Alles ist sogar sehr gut. Wie eine Welle in Zeitlupe beginnt aus dem Bauch heraus ein tiefes Glücksgefühl meinen Körper zu durchströmen. Mit ihm kehrt auch langsam die Ruhe zurück und legt sich wärmend und frisch in jede Faser meines Körpers. Ich lebe. Und wie ich lebe!

Im Sommer 2017 habe ich allein die Alpen von Ost nach West durchquert. Sechzig Tage war ich unterwegs. Die Nächte verbrachte ich fast ausschließlich unter freiem Himmel. Meine Route zog sich von Ljubljana aus durch den slowenischen Triglav Nationalpark, über die Karnischen Alpen entlang der Österreichisch-Italienischen Grenze bis in die Dolomiten.

Die Zukunft der Alpen

Weiter ging es durch Südtirol, wo ich mich in den Ortler verliebte, und über das Schweizer Engadin in die hohen Berge des Wallis. Dann durchwanderte ich die französische Vanoise und die Region Les Écrins und erreichte schließlich die Stadt Grenoble.

In Zahlen: 5 Länder, 60 Tage und Nächte, knapp 1.900 Kilometer und etwa 100.000 Höhenmeter. Alles, was ich zum Leben brauchte, fand in meinem 35 Liter Rucksack Platz. Und es ging mir so gut wie noch nie vorher in meinem Leben.

Diese Tour hat mich nachhaltig geprägt. Sie brachte viele große Veränderungen mit sich. So konnte ich – früher Film- und Theaterregisseurin – die Berge danach auch beruflich in meinen Lebensmittelpunkt rücken. Ich habe seitdem einmal im Jahr eine große Solo-Tour unternommen: Die Pyrenäen vom Mittelmeer zum Atlantik, den Colorado River von seinem Ursprung in den Rocky Mountains bis ans Meer in Mexiko, den Großen Kaukasus, ebenfalls von Ost nach West und erst kürzlich, jetzt mit kleiner Tochter, eine Trans Alp mit dem Rad von daheim im bayerischen Oberaudorf zum Klettern nach Arco in Italien.

Ich konnte besser riechen, hören, sehen, schmecken und auch fühlen.

Ich schreibe dazu Bücher, halte Vorträge und gebe meine Erfahrungen als Bergwanderführerin an meine Gäste weiter. Ich bewege mich viel außerhalb menschengemachter Organisationsstrukturen und besonders die Alpen lerne ich seit vielen Jahren sehr persönlich kennen.

Was mich so glücklich macht, wenn ich mich in den Alpen bewege, hat viel mit Freiheit zu tun. „In den Bergen wohnt die Freiheit“ – wenngleich wahr, so doch inzwischen ein abgedroschener, auf zu viele T-Shirts gedruckter Satz. Denn was daran missverständlich wahrgenommen werden kann, ist, dass die Verantwortung ausgeklammert wird, die mit dieser Freiheit einhergeht.

Für mich ist es die Verantwortung in der Freiheit, welche die Alpen – denn in unseren Breiten sprechen wir primär über diese Berge – als Spielraum heute so einzigartig macht. Was ich damit meine, das will ich versuchen hier zu erörtern.

Unser Alltag im Tal ist getaktet und eingekastelt. Wir richten uns ein in Terminkalendern und Busfahrplänen, nach Weckern und Deadlines. Wir leben in Häusern und Autos, Büros und den Hüllen modischer oder professioneller Kleidervorschriften. Wir halten uns an die Straßenverkehrsordnung, an Gesetze und Verhaltensregeln. Vieles davon ist wichtig, um als Gesellschaft zu funktionieren.

Die Sehnsucht danach, viele dieser menschengemachten Strukturen hinter mir zu lassen, war Basis und Antrieb in der Vorbereitung meiner Ost-West-Durchquerung der Alpen.

Unzählige Stunden zu Fuß im ständigen auf und ab haben meine physischen Kapazitäten massiv erweitert. Tage und Nächte unter freiem Himmel, sowie das Allein-Sein meine Sinne geschärft. Ich konnte besser riechen, hören, sehen, schmecken und auch fühlen, und irgendwann verstand ich aufziehendes Wetter auch ohne Wetterapp und Theorie.

Foto einer Gämse, die auf einer Straße steht. das Foto ist Teil eines Essays von Ana Zirner übr Freiheit und Verantwortung.
Eine Gämse. © Getty Images

Mein Bauchgefühl wurde trainiert wie ein Muskel und konnte mir als zuverlässiger Guide bei wichtigen Entscheidungen dienen. Begegnungen mit Menschen werden, wenn man allein unterwegs ist, noch prägender. Ignorantes Verhalten hinterlässt schmerzliche Spuren, Solidarität und Hilfsbereitschaft werden zu einem lebenswichtigen Elixier.

Gespräche mit Bergmenschen brauchen oft nicht viele Worte. Es sind anspruchsvolle Gespräche, die jedoch keine Ansprüche stellen. Kurz: Wenn man viel Zeit in den Bergen verbringt, wird man sensibler, bewusster, kommt sich selbst näher. Und man begreift, was es bedeutet nicht nur verantwortlich zu sein, sondern Verantwortung auch aktiv zu übernehmen.

Der Schnee auf dem Eis unter meinen Steigeisen knirscht bei jedem meiner langsamen Schritte. Ich überquere die weite weiße Fläche in einiger Entfernung zu den großen und tiefen Spalten. Die Furchen in der Oberfläche des Gletschers erinnern mich an das Gesicht eines alten Menschen. Es liegt Weisheit darin, und gelebte Zeit.

Ich bin allein. Um mich nur windstille Morgenröte. „Das macht man nicht. Man quert so einen Gletscher nicht ohne Seilschaft.“ So sagt man. Ich habe mich trotzdem dafür entschieden. Ich erreiche den Grat, deponiere etwas Gepäck, und beginne zu klettern. Da es teilweise vereist ist, lasse ich die Steigeisen an.

Ich bin im Moment: Es geht jetzt nur um den nächsten Tritt, den nächsten Griff, den ruhigen Atem. Es fühlt sich so gut an! In mir ist kein Vorsatz den Gipfel um jeden Preis zu erreichen. Wenn ich umkehren muss, ist das kein Scheitern, sondern ein gutes Zeichen: dass ich stärker bin als mein Ego.

Bald darauf steige ich die letzten Meter zu dem kleinen krummen Gipfelkreuz und halte inne. Mich durchströmt das Gipfelgefühl, ich atme tief ein und aus und mein Puls beruhigt sich etwas. Ich versuche die Eindrücke aus dem 360 Grad Weitblick in mir zu speichern. Die Konzentration bleibt dabei ungebrochen, der Abstieg steht ja noch bevor.

Ich verweile nicht lange. Die innere Klarheit sorgt für ein überraschend sicheres Gefühl von Routine, das mich durch den Abstieg begleitet. Aber erst als ich unten und abseits des Gletschers angekommen bin, fällt die Anspannung ab und ein Gefühl wie feine Sonnenstrahlen prickelt durch meinen Körper.

Die beschriebenen Einzelerlebnisse sollen verdeutlichen, was ich meine, wenn ich von der wertvollen Verantwortung für uns selbst spreche, die man am Berg wieder erlernen kann: Der eben beschriebenen Tour ging eine Entscheidung voraus, die nicht leichtfertig gefallen war. Ich kannte meine Grenzen damals sehr gut. Dazu gehört auch das Bewusstsein um das Risiko unvorhersehbarer und nicht selbst verschuldeter alpiner Unfälle. Und ich mache erfolgreich allein eine Gletscherquerung mit technischer Gipfelbesteigung und ebenso sicherem Abstieg, obwohl das im Bergsport für AmateursportlerInnen ein „No-Go“ ist, weil das Risiko als zu hoch eingestuft wird.

Alles läuft gut, denn ich bin mit allen Sinnen anwesend, kann es in dieser Situation vertreten und ich habe – nicht zuletzt – Glück. In der zu Anfang meines Essays beschriebenen Situation hingegen stürze ich mit fast fatalen Folgen, obwohl ich auf einem einfachen Wanderpfad unterwegs bin, der laut offizieller Wegeklassifizierung als „ungefährlich“ eingestuft werden kann.

Weil ich unkonzentriert gehe, meiner Eigenverantwortung eben nicht nachkomme, und weil ich Pech habe. In einem Spielraum ohne „Straßenverkehrsregeln“ dürfen, können und müssen wir wieder selbst Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Auch darin liegt die Freiheit in den Bergen.

Ich spüre die unermessliche Zeitspanne von Erdgeschichte, und wie mein eigenes kurzes Leben darin eingebettet ist.

Aber es gibt noch einen anderen und nicht minder bedeutsamen Aspekt für Verantwortung in der Freiheit, die uns die Alpen lehren können. Die landschaftliche Vielfalt, die ich auf dem gebirgigen Bogen durch die Mitte Europas erlebt habe, ist überwältigend. Ich erinnere mich an den weißen Kalkstein in Slowenien, der das gleißende Sonnenlicht wie überdimensionale Spiegel reflektierte.

Ich denke an die steilen Wiesenhänge in den Karnischen Alpen, die sich gleich einem großen Seufzer um mich herum ausbreiteten und an die stolze Ehrlichkeit der Südtiroler Dolomiten, die mahnend erinnern, dass es nicht nur als Bergsteigerin gilt, sich selbst und seine Grenzen zu kennen. Ich danke den Gletschern um König Ortler, die mich innehalten ließen und an denen ich endlich verstand, warum ich mich dem alten Eis am Berg so verbunden fühle: Es ist die Ambivalenz aus Kraft und Fragilität, in der ich mich selbst wiedererkenne. Seitdem bemühe ich mich selbst beide Seiten ehrlich zu leben.

Aber es ist auch das Schmelzen der Gletscher. das mich dort erstmal tief erschüttert hat. Denn es macht auf allzu eindrückliche Weise deutlich, mit welcher Rasanz der Klimawandel weltweit fortschreitet und dass wir keine Zeit mehr verlieren dürfen.

Gipfel aus Schutt und Schotter zeugen im Engadin von einer ferneren vergletscherten Vergangenheit. Ich spüre in ihrem Angesicht die unermessliche Zeitspanne von Erdgeschichte, und wie mein eigenes kurzes Leben darin eingebettet ist.

Im Tessiner und Piemonteser Nebel breitete sich in mir eine klingende Stille aus, die ich seither wie einen Diamanten in mir trage. Aus dieser Stille tretend begegnete ich dann der Erhabenheit der Walliser Riesen und konnte auf wohltuende Weise meine eigene Unbedeutsamkeit erleben.

Schließlich erinnerte mich die herbstliche Metamorphose in der französischen Dauphiné an die Kreisläufe aller Dinge in der Natur und so entließen mich die Alpen bei Grenoble voll Motivation und Mut zu Handeln.

Mit jeder Region, die ich durchwanderte, ist nicht nur meine innere Freiheit gewachsen, sondern auch mein Verantwortungsbewusstsein. Auch heute führt mir jeder Tag in den Bergen vor Augen, warum es sich lohnt, sich für Umwelt- und Klimaschutz einzusetzen. Die globalen Folgen kann man nicht ausblenden. Ich stehe mit diesen im Verhältnis.

Und so empfinde ich Maßnahmen, die ich individuell zu Klima- und Umweltschutz beitragen kann, nicht als Verzicht, sondern als Gewinn. Aber ich habe inzwischen auch begriffen, dass die Schritte von Einzelpersonen selbst in Summe nicht ausreichen werden. Als Teil der Gesellschaft gilt es alles daran zu setzen, dass auch in Politik und Wirtschaft entschiedener gehandelt wird. Denn der Schutz unserer Spielräume – unserer Lebensräume – wie den Alpen, in denen wir uns selbst in unserer Freiheit und unserer Verantwortung auf so unmittelbare Weise erleben können, ist nichts anderes als: Selbstfürsorge.

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