Refugium und Artenfalle
Die Hochgebirge der Alpen werden zu neuen Lebensräumen für einige Pflanzen der Niederungen. Jene, die bisher dort waren, sitzen allerdings in der Falle.
Auf den Punkt gebracht
- Hitze. Viele Pflanzen im Hochgebirge sind an die Kälte angepasst und oft an einen bestimmten Lebensraum. Hohe Temperaturen führen zu ihrem Aussterben.
- Licht. Kleinwüchsigkeit wird auch jenen Arten zum Verhängnis, die mit mehr Hitze umgehen könnten: Sie werden von Nachziehern in die Hochlagen überschattet.
- Kühle. Schreitet der Klimawandel fort, werden auch Tourismus, Landwirtschaft und Siedlungen in höhere Lagen ziehen – für Natur bleibt zunehmend weniger Raum.
- Rest. Natur und Kulturlandschaften werden Relikt – obwohl funktionierende Ökosysteme für die Anpassung an den Klimawandel unverzichtbar sind.
Steile, unzugängliche Berggebiete galten stets als Rückzugsraum der Natur. Der menschengemachte Klimawandel hat das verändert: Das Phänomen wirkt sich auf alle Ökosysteme aus, ungeachtet ihrer Abgeschiedenheit, und betrifft insbesondere die Arten des Hochgebirges, die an kalte Bedingungen angepasst sind. Das Refugium wird zu einer Falle.
Die Zukunft der Alpen
- Gletscher (Glaziologin Andrea Fischer)
- Steinböcke, Murmeltiere, Gämsen (Wildtier-Biologe Walter Arnold)
- Transit und Verkehr (Verkehrsplaner Stephan Tischler)
- Wasserkraft (Wasserbau-Experte Robert Boes)
- Wandern, Skifahren, Mountainbiken (Tourismusforscher Mike Peters)
- Skipisten auf Gletschern (Benjamin Stern, Alpenverein)
- Berglandwirtschaft (Soziologin Rike Stotten)
- Alpenbevölkerung (Demographie-Experte Rainer Münz)
- Die Hirten (Hirtin Sara Wintereder)
- Die Bergwiesen (Landwirt Florian Kogseder)
- Die Dörfer (Wissenschaftsjournalist Rolf Schlenker)
- Essay (Bergführerin Ana Zirner)
- Podcast: Kultur der Alpen (Geograph Werner Bätzing)
- Podcast: Wege und Hütten (Wolfgang Schnabl, Alpenverein)
- Podcast: Klimawandel (Meteorologe Andreas Jäger)
- Podcast: Wandern (Bergführerin Ana Zirner)
- Umfrage: Was bringt die Alpen in Gefahr?
- Diskussion: Die Zukunft der Alpen
- Zurück zur Übersicht: Unsere Alpen in Not
Zunächst eine Bestandsaufnahme: Blicken wir aus der Vogelperspektive auf die Alpen, so sehen wir, dass die Hochgebirge das einzige größere Gebiet in Mitteleuropa sind, in dem natur-nahe Ökosysteme noch den Ton angeben. Die Alpen zählen mit 2.000 bis 3.000 Farn- und Blütenpflanzenarten pro 100 Quadratkilometer zu den Zentren der Artenvielfalt.
Das Hochgebirge, also der Anteil oberhalb der Waldstufe, ist ein naturnaher Rest, denn auch die meisten großen Alpentäler stehen unter intensiver Nutzung; lediglich 2,9 Prozent der Wälder Österreichs gelten noch als naturnah. Der wesentliche Faktor für die vorhandene Artenvielfalt ist die ausgeprägte Topografie. Die Steilheit des Gebirges bedingt eine geringere Landnutzung beziehungsweise – in tieferen und mittleren Lagen – eine traditionelle Bewirtschaftung, die Artenvielfalt förderte, beispielsweise nährstoffarme Magerwiesen.
Hinzu kommt der ausgeprägte Höhengradient in den Alpen, der mehrere Klimazonen umfasst: Je 1.000 Höhenmeter sinkt die Temperatur um etwa sechs Grad Celsius. Die Topografie sorgte außerdem dafür, dass während der großen Eiszeiten die Alpen nicht völlig vergletschert waren. Mehrere eisfrei verbliebene, niedrigere Randbereiche waren ausreichend weit voneinander entfernt, sodass sich jeweils eigene Arten entwickeln konnten.
Bei den etwa 150 Pflanzen- und fast 600 Tierarten (und Unterarten), die es ausschließlich in Österreich gibt, finden wir daher eine auffällige Häufung in den niedrigeren, äußeren Gebieten der Alpen. Diese Randlagen beheimaten besonders viele endemische, also regional begrenzt vorkommende, Arten.
Spezialisten in eisigen Höhen
Niedrige Temperaturen und Nährstoffarmut sind kennzeichnend für die Flora der alpinen bis nivalen Stufe; letztere ist jene Zone, die durch Flechten und Algen bestimmt ist. Blütenpflanzen, wie man sie als typisch für die Alpen empfindet, kommen dort meist kaum mehr vor. Die Höchstfunde wie der Purpur-Steinbrech auf 4.507 Meter Höhe am Dom im Wallis in der Schweiz oder der Gletscher-Hahnenfuß auf 3.780 Metern am Großglockner sind Ausnahmen.
Wir halten fest: Die Alpenflora ist besonders vielfältig, und es gibt zahlreiche endemische Arten, die nur in einem abgegrenzten Gebiet vorkommen. Bei aller Vielfalt haben die Alpenpflanzen eine Gemeinsamkeit: die Kleinwüchsigkeit. Und diese ist einer der Gründe, warum der Klimawandel für Alpenpflanzen ein beträchtliches Problem darstellt. Es sind nicht bei allen Arten die hohen Temperaturen, die ihnen zu schaffen machen werden, sondern „nachrückende“ größer wachsende Pflanzen.
Warum sind Alpenpflanzen überhaupt kleinwüchsig? Nahe der Bodenoberfläche herrschen bessere thermische Bedingungen, denn die Temperatur am Berg ändert sich im Verlauf eines Tages sehr stark, wobei es an sonnigen Tagen in Bodennähe weitaus wärmer wird als in der Luft darüber.
Zahlen & Fakten
Die Klimaerwärmung bringt diesen Gebirgspflanzen keinen Wachstumsvorteil, denn ihre geringe Wuchshöhe ist genetisch festgelegt. Die ansteigenden Temperaturen erlauben es aber anderen Pflanzen, die bislang nur in der Waldstufe wachsen konnten, in die alpinen Habitate vorzudringen. Diese großwüchsigeren Pflanzen überschatten die besonders lichtbedürftigen alpinen Arten, was zu deren Verschwinden führt.
Bereits lange vor dem eigentlichen Aussterben einer Art kommt es zu einem Rückgang ihrer Häufigkeit und ihrer Vitalität sowie zur Einengung ihrer genetischen Bandbreite, was die kleinwüchsigen Alpenpflanzen letztlich zum Aussterben verurteilt.
Kurzfristiger Artenreichtum
Die Hochgebirgsökologie hat in den Alpen eine besonders lange Forschungstradition, und so lässt sich die Höhenverschiebung sehr gut belegen. Der Trend ist demnach eindeutig: Immer mehr Pflanzen erreichen mit fortschreitendem Klimawandel immer höhere Lagen.
Manche Arten, etwa der Gletscher-Hahnenfuß, werden allerdings nicht nur durch den Konkurrenzdruck, sondern ganz direkt durch die höheren Temperaturen an ihre Grenzen gebracht. Denn so wie sich die Obergrenzen nach oben verschieben, tun dies auch die Untergrenzen der Artvorkommen in ähnlicher Geschwindigkeit.
Bei den Pflanzen der extremeren Hochlagen mit einem Optimum oberhalb von 2.800 Metern, den Kältepflanzen, zeigen sich bereits seit Beginn dieses Jahrhunderts messbare und sich verstärkende Rückgänge. Diese Arten haben ein direktes, physiologisches Problem mit zu warmen Wachstumsbedingungen: Sie veratmen ihre Kohlenhydratreserven zu schnell.
Nach oben ausweichen können diese Pflanzen allerdings auch nicht so einfach. Weiter oben gibt es zu wenig Substrat für höhere Pflanzen wie sie. Das Verschwinden dieser überwiegend kleinräumig verbreiteten Arten ist daher absehbar, der größere Artenreichtum in einigen höheren Lagen wird nur von kurzer Dauer sein.
Die Transformation des Gebirges
Längere Trockenperioden im Tiefland werden das Gebirge zu einem kühleren und feuchteren Rückzugsraum für Pflanzen und Tiere im Umfeld der Alpen machen, die damit ein wichtiges ökologisches Refugium bleiben. Die Frage ist allerdings: wie lange noch?
Denn eine ungebremste Erderwärmung wird auch viele menschliche Aktivitäten in die klimatisch angenehmeren Gebiete der Alpen verlagern. Die drohende Folge: weitere Verbauung in den Tälern, touristische Erschließung der Hochlagen und die Forcierung der Energiegewinnung aus nichtfossilen Quellen. Bioenergiewälder in den Alpen, alpine Photovoltaik- und Windkraftanlagen sowie der Ausbau der wenigen verbliebenen naturnahen Fließwasserstrecken der Alpen würden erneut auf Kosten dieses Refugiums gehen.
Werden weitere Bergbauernhöfe und Almen aufgegeben, sind eine stärkere Verwaldung, ein Vordringen artenarmer Grünerlen-Bestände und zugleich – bei entsprechender Straßenerschließung – eine Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung zu erwarten. Düngung, zu häufige Mahd oder zu intensive Beweidung bedingen aber den Zusammenbruch artenreicher Bergwiesen und -weiden. Wird behirtete Almbeweidung selten, könnte in den alpinen Hochlagen eine fehlsubventionierte Beweidung durch Schafe und Ziegen zunehmen und weiter zu Artenverlust und Erosion beitragen.
Eine intakte und artenreiche Biosphäre, auch „Natur“ genannt, ist aber unsere wichtigste Verbündete gegen den weiteren Anstieg der Treibhausgase – Klima- und Biodiversitätskrise sind miteinander verbunden. Durch artenreiche Ökosysteme – seien es Wälder, Wiesen, Moore oder Feuchtgebiete – könnten wir auf relativ einfache Weise atmosphärisches CO2 entziehen.
In den Alpen kommt noch die Schutzfunktion vor Muren, Lawinen und Bergstürzen als sogenannte „Ökosystemdienstleistung“ hinzu. Doch trotz des fortschreitenden Klimawandels rücken wir nicht vom „Prinzip Ausbeutung“ ab, das nicht nur die Ökosysteme der Alpen dauerhaft gefährdet: Weltweit läuft die fossile und nichtfossile Energieerzeugung auf Hochtouren.
Ebenso dringend notwendig wie die Transformation der Gesellschaft zu einem zukunftsfähigen Zusammenleben in stabilen Demokratien ist die Einsicht, dass die Menschheit ohne funktionierende Ökosysteme keinen Fortbestand haben kann.
Conclusio
Das Aussterben vieler endemischer Arten und speziell der Arten der Hochgebirge scheint unvermeidlich. Bereits seit Jahrzehnten ist das Höherziehen von Pflanzen aus den niedrigeren Stufen der Alpen dokumentiert. Ein Weg, um den Verlust zu beschränken, wäre neben der drastischen Reduktion von Treibhausgasen eine Stärkung der traditionellen Berglandwirtschaft mit Almen und ökologisch bedachter Behirtung. Ein besseres Verständnis für die Bedeutung der Biosphäre für den Menschen im Sinne der Resilienz scheint ebenso notwendig, um wirksame Schutzmaßnahmen umsetzen können. Die Flora der Alpen befindet sich in einem Transformationsprozess, der ungesteuert eine Anpassung an den Klimawandel eher erschweren wird und im Zuge dessen die Alpen ihren landschaftlichen Charakter grundlegend verändern.
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