Kulturraum am Kipp-Punkt
Die Ökonomie der Alpen drängt an den Rand, was ihre Grundlage ist: der vielfältige Kulturraum. Kulturgeograph Werner Bätzing über das Alpenparadox.
Die Alpen verschwinden, lautet eine These von Werner Bätzing, Kulturgeograph und Autor des Standardwerks über die Kulturgeschichte der Alpen. Nach den Umbrüchen im 19. Jahrhundert kam die zweite große Zäsur in den 1960er Jahren mit der Industrie, dem Tourismus und dem Verkehr. Die Berglandwirtschaft wurde – ungewollt – endgültig an den Rand gedrängt. Die Gleichzeitigkeit von Aufschwung und Verlust charakterisiert den Alpenraum bis heute.
Der Podcast mit Werner Bätzing
Die größte Gefahr ist, dass die kleinräumige Kulturlandschaft der Alpen verschwindet und die Alpen nichts Spezifisches mehr haben.
Werner Bätzing
Die Zukunft der Alpen
- Gletscher (Glaziologin Andrea Fischer)
- Alpine Vegetation (Ökologe Harald Pauli)
- Steinböcke, Murmeltiere, Gämsen (Wildtier-Biologe Walter Arnold)
- Transit und Verkehr (Verkehrsplaner Stephan Tischler)
- Wasserkraft (Wasserbau-Experte Robert Boes)
- Wandern, Skifahren, Mountainbiken (Tourismusforscher Mike Peters)
- Skipisten auf Gletschern (Benjamin Stern, Alpenverein)
- Berglandwirtschaft (Soziologin Rike Stotten)
- Alpenbevölkerung (Demographie-Experte Rainer Münz)
- Die Hirten (Hirtin Sara Wintereder)
- Die Bergwiesen (Landwirt Florian Kogseder)
- Die Dörfer (Wissenschaftsjournalist Rolf Schlenker)
- Essay (Bergführerin Ana Zirner)
- Podcast: Wege und Hütten (Wolfgang Schnabl, Alpenverein)
- Podcast: Klimawandel (Meteorologe Andreas Jäger)
- Podcast: Wandern (Bergführerin Ana Zirner)
- Umfrage: Was bringt die Alpen in Gefahr?
- Diskussion: Die Zukunft der Alpen
- Zurück zur Übersicht: Unsere Alpen in Not
Das Alpenparadox
Der Mensch wurde vor etwa 8.000 Jahren in den Alpen sesshaft. Die natürlichen Matten jenseits der Baumgrenze waren schon zuvor Jagdgründe und Transitrouten gewesen, ab etwa 3.000 v. Chr. wurden dann die Täler gerodet, Terrassen an den Hängen angelegt und Ackerbau betrieben. Das Vieh trieb man im Sommer auf die Almen und im Herbst wieder in die Täler bzw. auf die Südseite der Alpen.
„Die Alpen sind in Wirklichkeit von Menschen veränderte Natur, also Kulturlandschaft. Wir können sagen, dass die Alpen ohne den Menschen bis über 2.000 Meter mit dichten, dunklen Wäldern bestanden wären“, so Werner Bätzing. Der Mensch habe durch Umwandlung der Wälder in Acker-, Wiesen- und Weideflächen die ursprüngliche Ökologie der Alpen maßgeblich verändert, den Wald zurückgedrängt und aus den Alpen einen Kulturraum mit einer spezifischen Landwirtschaft gemacht, die Vieh- und Ackerwirtschaft integrierte und die vor allem kleinräumige neue ökologische und kulturelle Nischen schuf.
„Der Mensch hat ein Mosaik geschaffen, ein Mosaik von Wiesen, Weiden, Äckern, Wäldern und so weiter, eine sehr kleinräumige Landschaft, weil er nur in dieser Kulturlandschaft überhaupt Lebensmittel produzieren konnte, weil er nur in der Kulturlandschaft leben konnte. In den Waldgesellschaften wäre ihm das nicht möglich gewesen.“
Es ist dieses Mosaik, das die Alpen als touristisches Ziel attraktiv macht. Schon der Tourist des 19. Jahrhunderts suchte in den Alpen den Gegenentwurf zur Stadt – und schuf eine ganze Industrie, um den „schönen Anblick“ zu erschließen. Zugleich setzte mit der neuen Industrie der Niedergang der alten Wirtschaftsweise ein, die den Kulturraum erst geschaffen hatte.
Wachsen oder Weichen
Während die traditionelle Berglandwirtschaft mit der Vielfalt ihrer Produkte von Wolle, über Leinen, Käse, Früchten, Getreide bis zu Fleisch und Milch auch eine ökologisch kleinräumige und vielfältige Kulturlandschaft schuf, wird diese Vielfalt ab den 1960er Jahren mit der Industrialisierung auch der Landwirtschaft zurückgedrängt. Damit ändert sich auch der Bezug zur Natur, denn die Alpen sind nur begrenzt für die Massenproduktion von Lebensmitteln geeignet.
„Vorindustrielle Bauerngesellschaften haben generationenübergreifend gedacht. Das bedeutet, sie haben immer auch so gearbeitet, dass die Umwelt nicht zerstören, sondern zugleich bei der Nutzung auch pflegen. Und dieses Muster hat sich in den Alpen bis in die 1950er Jahre erhalten. Erst ab den 1960er Jahren tritt dann die Modernisierung ein, wo man kurzfristig wirtschaften muss, wo es auf einmal heißt, entweder wachsen oder weichen, entweder den Betrieb vergrößern oder aufgeben. Da kommt die Marktwirtschaft, da kommt die Konkurrenz, da kommt etwas vollkommen neues. Seit der Zeit entstehen im Alpenraum große ökologische Probleme.“
Zweifache Entwertung
Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg war die Initialzündung für eine Landflucht. Die Fabriken suchten Arbeitskräfte – viele hätten das als eine Chance gesehen, dem anstrengenden Leben als Bergbauer zu entfliehen, sagt Bätzing. Die traditionelle Lebensmittelproduktion wurde im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft, vor allem durch die Mechanisierung, ökonomisch entwertet. In der Landwirtschaft zu arbeiten, rechnete sich nicht mehr.
Zugleich wurden auch die Produkte dieser traditionellen Wirtschaftsweise kulturell entwertet: „Es wird immer schwerer, der Ertrag wird immer schlechter, und die junge Generation sieht, so kann das auf Dauer nicht mehr weitergehen. Und dann übernimmt die junge Generation den landwirtschaftlichen Betrieb nicht mehr, weil sie sehen, es rentiert sich ökonomisch nicht mehr. Man hat auch das Gefühl, die Produkte sind es nicht mehr wert. Diese ehemaligen Qualitätsprodukte, die man auf der Alm produziert hat, sind in den 1960er und 1970er Jahren überhaupt nicht wertgeschätzt worden. Das setzt erst wesentlich später ein. Das heißt, diese wirtschaftliche und kulturelle Entwertung hat die Menschen dann im Prinzip aus der Landwirtschaft rausgetrieben.“
Ein Umdenken habe erst in den 1980er Jahren eingesetzt, auch dank einer Agrarpolitik, die zumindest teilweise auf die Bedingungen im Alpenraum reagiert. „Es sind sehr viele bäuerliche Qualitätsprodukte aus dem Alpenraum auf dem Markt, aber trotzdem können wir sagen, die wirtschaftliche Situation ist nach wie vor problematisch. Sie ist schwierig, und die Betriebe gehen weiter zurück, und da ist leider derzeit kein Ende dieser Entwicklung abzusehen.“
Tourismus heute
Der Tourismus in den Alpen lässt zu wenig Wertschöpfung in den Gemeinden, kritisiert Werner Bätzing. Zum einen gäbe es eine ausgeprägte Konzentration auf wenige touristische Zentren. Während die großen Konglomerate mit 5.000 Betten und mehr noch weiter wachsen, verlieren Gemeinden mittlerer und geringer Kapazitäten an Übernachtungen.
Der Bezug zwischen Tourismus und Einheimischen wird immer stärker entkoppelt.
Werner Bätzing
Vor allem große touristische Anbieter, Hotelketten und Gastronomiebetriebe profitierten von dieser Entwicklung. „Das heißt, der Bezug zwischen Tourismus und Einheimischen wird immer stärker entkoppelt. Und den Einmischen bleiben die Belastungen durch den Tourismus, die hohen Preise, Grundstückspreise, Lebensmittelpreise, die hohen Umweltbelastungen, der Lärm, die hohe Zahl von Menschen, aber sie profitieren immer weniger direkt davon, weil der touristische Ertrag in die Hände von touristischen Großunternehmen geht, die außerhalb der Alpen ihren Sitz haben.“
Die Teilung der Alpen
Die Alpen werden in Zukunft stark wachsende Zentren (entlang der großen Transitrouten, in den Tourismus-Hot Spots und in den großen Städten) erleben und ebenso schrumpfende Gemeinden. Die Entscheidung trifft der Verkehr. Was gut erreichbar ist, wächst, woanders wandern Arbeitskräfte und Arbeitsplatze, Handwerksbetriebe und Schulen ab.
Es geht auch anders, meint Werner Bätzing. Die Bergsteigerdörfer etwa seien ein Beispiel für einen nachhaltigen Tourismus, ebenso die Angebote der Nationalparks. Doch dem gegenüber stünden Großprojekte wie etwa der Ausbau der Gletscherskigebiete, zum Beispiel am Monte Rosa. „Es gibt eine ganze Menge von Großprojekten, oder ich erinnere daran, die Jungfraubahnen haben mit Stolz verkündet, dass sie 2023 das allerhöchste Geschäftsergebnis gehabt haben in ihrer gesamten Geschichte, und sie wollen sofort wieder in neue Großprojekte investieren, denn das Geld muss ja angelegt werden. Hier sehe ich eine ganz starke und sehr problematische Ausbau-Tendenz.“
Der Großausbau werde auch die Sommerangebote erfassen, die dann schlimmstenfalls so organisiert werden wie der Wintertourismus. Kletterparks, Mountainbike-Strecken, neue Abfahrten ins Tal: „Die menschliche Dimension des Gebirges geht verloren, indem der größere Teil des Gebirges menschenleer wird, die Kulturlandschaft verwildert und sehr viel monotoner wird. Dafür haben wir dann in den Tallagen eine Architektur, die genauso aussieht wie in der Peripherie von München oder in der Peripherie von Frankfurt oder von Wien, wo die Alpen ich nichts Spezifisches mehr haben, und genau die großen Tourismuszentren in den höheren Lagen. Es entstehen Tourismus-Städte, die so anonym sind wie überall auf der Welt.“
Von den Alpen lernen
Der Gegenentwurf dazu kommt aus den Alpen selbst: Als ein Lebensraum der kleinen Strukturen zeigten sie vor, wie Dezentralität, Vielfalt und multifunktionale Lebensräume möglich seien. „Es muss gelingen, die Alpen als einen dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum zu bewahren, der weder monofunktional für Naturschutz noch für Tourismus oder Siedlungsraum ausgebaut wird. Es ist ja schon einmal gelungen, die Natur zu nutzen, ohne sie zu zerstören, und dabei zugleich eine große Vielfalt an Kultur zu entwickeln. Es ist ganz dringend notwendig, dass das für die Zukunft bewahrt wird.“
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Über Werner Bätzing
Werner Bätzing ist Professor emeritus für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg und durch seine Publikationen über die Alpen auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Sein Buch Die Alpen, Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft ist in mehreren Auflagen erschienen und gilt als Standardwerk zum Thema. Bätzing forscht außerdem zur Geschichte des ländlichen Raumes. Zuletzt erschien von ihm Homo Destructor. Eine Mensch-Umwelt-Geschichte.
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